Gewann 2018 in den USA den National Book Award: Sigrid Nunez' Roman "Der Freund"
Memoir oder Roman, Hund oder Mann? Die amerikanische Schriftstellerin Sigrid Nunez und ihr großartiges Buch "Der Freund".
Einmal bricht es doch sehr schutzlos und direkt aus der Ich-Erzählerin von Sigrid Nunez’ Roman „Der Freund“ (Aus dem Amerikanischen von Anette Grube. Aufbau Verlag, Berlin 2020. 235 S., 20 €.) heraus. Da helfen keine literaturhistorischen Ausflüge mehr, kein Flanieren in Manhattan, keine therapeutischen Sitzungen, kein Hund: „Es ist ganz einfach. Ich vermisse dich. Ich vermisse dich jeden Tag.“
Der angesprochene andere, das ist ein langjähriger Freund der Erzählerin, nicht ihr Liebhaber, nicht ihr Ehemann, sondern ihr bester, vertrautester Freund, ein Schriftsteller und Literaturdozent, der Selbstmord verübt hat.
Gab es Hinweise?, fragt sie sich. Womöglich, schließlich habe er, den sie stets in der zweiten Person Singular anspricht, viel darüber gesprochen. Trotzdem sei er nicht der unglücklichste, am meisten deprimierteste, der selbstmordgefährdetste Mensch in ihrem Freundeskreis gewesen.
Ob Schreiben die Fähigkeit zur Empathie herabsetzt?
Es ist ein langsames, stockendes, durch viele Absätze gekennzeichnetes Erinnern, das den Beginn von Nunez’ Roman dominiert. Nach und nach porträtiert sie den Verstorbenen, erzählt von seinen drei Ehefrauen, dass er immer wieder Affären mit jüngeren Frauen hatte, wie die Beerdigung war und was es mit dem Schreiben und der Konkurrenz unter Schriftstellern so auf sich hat.
„Wenn Lesen die Fähigkeit zur Empathie tatsächlich fördert, wie uns ständig erzählt wird, dann scheint Schreiben sie zu vermindern.“ Was für ein Satz, der hier gleich auf den ersten Seiten steht! Man muss einfach weiterlesen und würde nichts lieber tun als sich von den Nunez’ Gedankenströmen weitertreiben zu lassen.
Doch so ganz allein bleibt die Erzählerin nicht mit ihrer Trauer und ihren Reflexionen. Von der letzten Ehefrau ihres Freundes wird ihr ein Hund vermacht, eine riesige, achtzig Kilogramm schwere dänische Dogge mit dem Namen Apollo, die eigentlich viel zu groß für ihre Wohnung ist.
„Der Freund“ bewegt sich schließlich auf zwei Strängen: hier der Hund, der versorgt, ausgeführt sein will, der Scherereien mit dem Vermieter verursacht, der ein großer Trost ist. Was soweit geht, dass Frau und Hund das Bett miteinander teilen.
Wer ist denn nun der Freund? Hund oder Mann?
Und dort der andere Strang, das Leben, Schreiben und Schriftstellerinnen-Dasein, die Erinnerungs- und Trauerarbeit, die Gespräche mit dem Therapeuten, die Verweise auf andere Autoren und Autorinnen, die Verbindungen von Trauer und Tod in der Literatur, die Überlegungen, was das Schreiben doch für eine Anmaßung ist.
„Dann aber Karen Blixen, die glaubte, dass man jeden Kummer erträglich machen kann, indem man ihn zu einer Geschichte einbaut oder eine Geschichte darüber erzählt.“
Nunez bezieht sich häufiger auf die Wechselfälle von Literatur und Autobiografie, wo zwischen Roman und Memoir die feinen Linien zu ziehen sind, nicht zuletzt leitet die Erzählerin gerade ein Seminar darüber. Und sie fragt sich: Kann Schreiben kathartische Effekte haben? Und wenn ja, bringen diese auch gute Literatur hervor?
Man bekommt schon auch den Eindruck, dass „Der Freund“ mehr Memoir als Roman ist. Dass Nunez viel aus ihrem Autorinnen- und Dozentinnenleben berichtet, nicht nur, weil die Dogge einmal ein Knausgård-Taschenbuch ihrer neuen Besitzerin zerfrisst. (Später, ein schöner Moment, nimmt der Hund die nachgekaufte Min-Kamp-Ausgabe vorsichtig in den Mund und reicht ihr das Buch).
Es gibt zum Beispiel auch eine Berlin-Passage, die Erinnerung an einen Besuch des Kleist-Grabes am Kleinen Wannsee mit ihrem verstorbenen Mentor.
Nunez war Fellow der American Academy in Berlin
Sigrid Nunez, 1951 als Tochter einer deutschen Mutter und eines chinesisch-panamaischen Vaters in New York City geboren und lange Zeit Assistentin von Susan Sontag, hielt sich 2005 für ein Jahr als Fellow der American Academy in Berlin auf, nachdem mehrere Romane von ihr ins Deutsche übersetzt worden waren.
Der letzte übersetzte erschien 2002, der Vietnam-Roman „Für Rouenna“. Erst der National Book Award 2018 für „The Friend“ scheint hierzulande wieder das Interesse von deutschen Verlagen an dieser Autorin geweckt zu haben.
Was nur zu begrüßen ist. Nunez schreibt eine klare, gedankenreiche Prosa und spielt schön mit der eigenen Biografie und der ihres Freundes, um den sie trauert. „Wie soll die Geschichte enden? Eine Weile lang habe ich mir vorgestellt, dass sie so endet: (...)“, beginnt das vorletzte Kapitel. Also Vorsicht!
Und fast noch schöner ist, wie Nunez die Liebe zu dem verstorbenen und ihrem tierischen Freund ineinanderübergehen lässt. Ob das Schreiben dieses Buches für die New Yorker Schriftstellerin kathartisch war? Das Ende der Geschichte weist nicht daraufhin. Umso besser ist „Der Freund“ geworden.
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