Susan Sontag revisited: Die Erotikerin des Schwierigen
Zwischen moralischem Ernst und ästhetischer Ironie: Eine persönliche Erinnerung an die große amerikanische Intellektuelle Susan Sontag, die zehn Jahre nach ihrem Tod nun Gegenstand des Berliner Symposions "Susan Sontag revisited" war.
Kennengelernt habe ich Susan Sontag im Frühjahr 1974, bei einem Abendessen in Berkeley. Der Gastgeber war Robert Scheer, Autor eines der ersten Pamphlete gegen den Vietnamkrieg und früherer Chefredakteur der so eleganten wie radikalen Zeitschrift „Ramparts“, für die Susan in den späten 60er Jahren geschrieben hatte. Ich erinnere mich besonders an ihren Essay „Ein Brief aus Schweden“, der mit dem Satz begann: „Jedes neue Land macht die Erfahrung, dass es zuallererst eine Schlacht der Klischees austragen muss.“
Ich befand mich damals am Ende meines Studiums an der dortigen University of California, wo ich im Juni Examen machen wollte, und arbeitete unter der Hand als Rechercheur für Scheer. Er schrieb an einem Buch über multinationale Unternehmen und ein Phänomen, das später Globalisierung genannt wurde, das uns Linken aber damals unter dem Begriff Imperialismus vertraut war. In New York wollten Scheer und ich das Buch beenden. Er sollte bei seinem alten Kumpel Jules Feiffer wohnen, einem Cartoonisten, der für die „Village Voice“ arbeitete, und ich bei Sontag, die mich in ihre Dachgeschosswohnung am Riverside Drive 340 einlud, das frühere Atelier von Jasper Johns.
Ich erinnere mich gut an ihre Wohnung. Sie war von Sonnenlicht durchflutet und umgeben von einer großzügig bemessenen Terrasse, von der man auf den Hudson River schaute. Allerdings war sie spartanisch eingerichtet: Dielen, weiße Wände, hohe Decken; im Wohnzimmer ein einzelner Eames-Sessel und ein echter Mao von Andy Warhol; im Esszimmer ein großer Esstisch aus Eiche, der von langen Bänken flankiert war. In den Küchenschränken befanden sich ein Stapel Teller, ein paar Gläser und reihenweise alte Ausgaben der „Partisan Review“.
Gegen eine Wand im Schlafzimmer war ein eigentümliches Buntglasfenster aus Italien gelehnt, das einen gespenstischen Totenkopf zeigte, eine Art Memento mori, und neben ihrem Bett, auf einem Nachttisch, stand eine 24-Stunden-Uhr, die die Zeitzonen dieser Welt anzeigte. Am wichtigsten aber waren die Wände, die das Gewicht von 8000 Büchern trugen, einer Bibliothek, die Susan später ihr „persönliches Datenabfragesystem“ nannte. Zum Zeitpunkt ihres Todes, 30 Jahre später, beinhaltete es ganze 25 000 Bände.
Ich verbrachte den Sommer damit, mir den Hals zu verrenken, die Bibliothek zu durchforsten und zu begreifen, dass meine wirkliche Bildung jetzt erst beginnen würde. Ich entdeckte Hunderte von Schriftstellern, von denen ich noch nie gehört hatte, und solche, deren Name mir bekannt vorkam, die ich aber nie gelesen hatte. Aus mysteriösen Gründen fühlte ich mich von vier Bänden mit blauem Rücken magisch angezogen: „Die Tagebücher von André Gide“. Sie waren, wie viele andere in Susans Bibliothek, mit dünnen Bleistiftunterstreichungen und Anmerkungen gefüllt. Eine der Gide-Passagen beeindruckte mich zutiefst: „Wenn ich aufhöre, wütend zu werden, werde ich zu altern begonnen haben.“
Zu meinem 22. Geburtstag lud sie mich ins Konzert mit Waylon Jennings ein
Anfang August, zu meinem 22. Geburtstag, lud Susan mich zu einem Konzert von Waylon Jennings im Bottom Line ein, einem angesagten Club, der erst sechs Monate zuvor eröffnet worden war. Fünf Jahre später revanchierte ich mich und lud Susan zu einem Konzert von Graham Parker and The Rumour im Roxy in Los Angeles ein.
Ihr Sohn David Rieff, so alt wie ich, hatte lange einen Narren an Countrymusik gefressen und konnte sich mit einer umwerfenden Sammlung maßgeschneiderter Cowboystiefel brüsten. Wir verbrachten viele schwüle Abende damit, seinen Hund Nu-nu, einen Alaskan Husky mit Augen wie denen von Paul Newman, in unserem Viertel Gassi zu führen. Währenddessen redeten wir über Politik und Literatur und höheren Klatsch, tranken unzählige Espressi und rauchten Picayunes – starke, filterlose Zigaretten aus Kentucky, die David damals noch rauchte. So entstand eine lebenslange Freundschaft.
Sechs Tage später kam es zum unehrenhaften Rücktritt von Präsident Nixon. Scheers Buch musste umbenannt werden in „Amerika nach Nixon: Das Zeitalter der multinationalen Konzerne“. Mir fiel die Aufgabe zu, durch die Druckfahnen zu gehen und alle Stellen, in denen Nixon im Präsens auftauchte, in die Vergangenheitsform zu setzen. „Nixon war“. Nie hat mir etwas derart Nervtötendes so viel Freude bereitet.
Susan und ich erhielten unsere Freundschaft aufrecht. Während meiner fast zehn Jahre, in der ich die „Los Angeles Times Book Review“ redaktionell verantwortete, war sie eine geschätzte Autorin. Wir verbrachten Jahre damit, Antiquariate in Berkeley, Los Angeles und New York zu durchforsten. Stundenlang sprachen wir über die immer bizarrer werdenden chinesischen Hakka-Gerichte in einer kleinen Suppenküche an der Ecke von Stockton und Broadway in San Francisco und in anderen Städten. Wir schauten uns die Filme von Kenneth Anger und die surrealistischen Meisterwerke der Puppenanimation von Ladislaus Starewitsch an. Tom Luddy führte sie uns im Pacific Film Archive so lange vor, bis uns die Augen aus dem Kopf zu fallen drohten.
Als Susan im Frühjahr 2004 von Neuem an Krebs erkrankte, fürchtete ich, dass es das letzte Mal sein würde, obwohl sie die beiden vorherigen Schübe überlebt hatte. Ich sah sie noch einmal im April, als sie nach Los Angeles kam, um von der Library Foundation einen Preis für ihr Lebenswerk entgegenzunehmen. Sie sah wie immer aus, strahlend und voller Leben. Sie nahm mich beiseite und vertraute mir die düstere Diagnose an, die sie gerade erhalten hatte. Sie sagte: „Drei Treffer, und es ist vorbei.“
Neben dem persönlichen Verlust jener, die das Glück hatten, Susan eine Kameradin, Freundin und Mitkämpferin nennen zu können: Was geht uns ihr Tod an? Wofür stand ihre Arbeit? Und hält sie der Zeit stand? Sie war zweifellos eine von Amerikas einflussreichsten Intellektuellen. Sie war international für ihre leidenschaftlichen Interventionen bekannt, für die Weite ihrer kritischen Intelligenz und für ihre Unermüdlichkeit in der Sache der Menschenrechte. Sie war, als Schriftstellerin, eine Bürgerin der Welt, eine Kritikerin und eine Kämpferin.
Die Autorin von 17 Büchern, die in mehr als 30 Sprachen übersetzt wurden, verdiente sich ihre ersten kritischen Lorbeeren vor mehr als einem halben Jahrhundert. Die Rede ist von ihren für die „Partisan Review“ geschriebenen „Anmerkungen zu ‚Camp‘“, die zwei Jahre später Teil ihrer ersten Aufsatzsammlung „Kunst und Antikunst“ wurden. Susan schrieb über Pornografie und Fotografie, die Ästhetik der Stille und die Ästhetik des Faschismus, das Bunraku-Puppentheater und die Choreografien von Balanchine, sie schrieb über die Verwendung und den Missbrauch der Sprache der Krankheit und Porträts von Schriftstellern und Filmemachern wie Antonin Artaud, Walter Benjamin, Roland Barthes, Elias Canetti, Kenneth Anger, Ingmar Bergman, Robert Bresson, Carl Dreyer, Rainer Werner Fassbinder, Hans-Jürgen Syberberg, Jean-Luc Godard, Robert Walser, Marina Zwetajewa und Alice James.
Susans Sinn stand immer nach mehr. Ihr ganzes Leben sann sie danach, Goethes Maxime „Zwar weiß ich viel, doch muss ich alles wissen!“ gerecht zu werden. Sie wollte, wie Wayne Koestenbaum scharfsinnig beobachtete, die Welt verschlingen. Der Tag oder die Nacht hatten nie genug Stunden für sie. Die Zeit, die sie damit verbrachte, zu lesen, wieder zu lesen und noch einmal zu lesen, stahl sie sich. Sie war eine schlaflose Allesfresserin, eine unersättliche, ehrgeizige, endlos neugierige und besessene Sammlerin.
Sie war hungrig nach ästhetischem Vergnügen, wurde aber zugleich von der Last einer Moral heimgesucht, der rein ästhetische Genüsse als reiner Zeitvertreib gelten, für den man sich schuldig fühlen muss. Sie strengte sich gewaltig an, um sich von der erstickenden Enge dieser Tradition zu befreien. Sie ging sogar so weit, aus ihrer persönlichen Zwangslage ein allgemeines Leiden zu machen. Ihr Aufruf „Statt einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst“, der letzte Satz ihres Essay „Gegen Interpretation“ von 1964, ist berühmt geworden.
Sie war eine getreue Anhängerin der Ernsthaftigkeit
Susan war eine getreue Anhängerin der Ernsthaftigkeit. Sie hielt es für die Pflicht von Kulturkritik, ihr Gewicht darauf zu verwenden, worauf es ankommt. Sie glaubte nicht, dass der erste Gedanke, den man hat, gleich der beste sei. Sie wusste, dass das, was mit Kulturkritik auf dem Spiel steht, nichts weniger als das Bild ist, das eine Gesellschaft von sich selbst hat. Und sie wusste, dass keine der aufregenden digitalen Neuerungen uns von der Notwendigkeit jener Strenge enthebt, die solch eine Abrechnung mit sich selbst ermöglicht. Man braucht Zeit, um schwierige Fragen zu durchdenken. Geduld ist eine Voraussetzung für wahre Erkenntnis. Der denkende Geist sollte nicht zur Eile gezwungen werden. Heute befindet sich dieses Ideal unter Beschuss.
Susan glaubte nicht, dass die Freuden kritischen Denkens nur einer Elite vorbehalten sein sollten. Aber sie wusste, dass wir in einer Zeit leben, die dieses Vergnügen nicht fördert: „Wir leben in einer Kultur, in der auf der Suche nach einer radikalen Unschuld der Intelligenz jede Relevanz abgesprochen wird. Oder sie wird als Instrument von Autorität und Repression missbraucht. Meiner Ansicht nach ist nur einer Art der Intelligenz eine Verteidigung wert, die kritisch, dialektisch und skeptisch ist und Dinge nicht vereinfacht.“ Sie verfocht den Eros des Schwierigen.
Leider interessieren sich Susan Sontags Kritiker weniger für ihre Texte und Ideen als für ihr Privatleben oder das, was sie sich darunter vorstellen. Sie sind hypnotisiert vom Heiligenschein der Prominenz, der Sontag zu Lebzeiten umgab und noch immer scheint. Aber wenn in ihrer Arbeit irgendein bleibendes Verdienst liegt, dann ist dieser voyeuristische Fokus, gelinde gesagt, deplatziert. Ganz abgesehen davon, dass jene Kritiker den Ruhm, den sie kritisieren, zugleich zu ihren eigenen Zwecken nutzen.
In „Anmerkungen zu ‚Camp‘“ erklärte die „trunkene Ästhetin“ und die „besessene Moralistin“, wie sie sich selbst einmal beschrieb, dass „die beiden bahnbrechenden Kräfte des modernen Empfindens der moralische Ernst der Juden auf der einen, der Ästhetizismus und die Ironie der Homosexuellen auf der anderen Seite“ sind. Wenn wir uns darauf einigen können, dass Kategorien wie „der moralische Ernst der Juden“ und „der Ästhetizismus und die Ironie der Homosexuellen“ überhaupt existieren, könnte man behaupten, dass sie die Gegensätze einer Erörterung waren, die Susan ihr Leben lang auch mit sich selbst führte.
Sontags größtes Ziel war es, die „Unterscheidung von Gedanken und Gefühlen“ zu zerstören. Sie war in ihren Augen die „Grundlage aller antiintellektuellen Ansichten: das Herz und der Kopf, Denken und Fühlen, Fantasie und Urteil“. Für sie galt: „Das Denken ist eine Form des Fühlens; das Fühlen ist eine Form des Denkens.“ Ihr Stil diente diesem Ziel, und in Wahrheit war dieser Stil ihr Thema.
Die Art und Weise, wie sie denkt, wie sie einen Text angeht, wie sie ihren Lesern die Möglichkeit gibt, einem Geist heimlich dabei zuzuhören, wie er denkt, und zwar so unnachgiebig und behände wie möglich – das ist es, was ihre Arbeit so unwiderstehlich macht. Man könnte auch sagen, dass es nicht so sehr ihre Meinungen sind, die zählen – auch wenn diese natürlich zählen –, sondern die Art und Weise, wie sie zu ihnen kommt.
Steve Wasserman, Editor-at-large der Yale University Press, leitete von 1996 bis 2005 die „Los Angeles Times Book Review“. Zuvor war er Verleger und Programmleiter der Verlage Hill & Wang und The Noonday Press bei Farrar, Straus & Giroux. Sein von Daniel Schreiber übersetzter Essay ist die gekürzte Fassung eines Vortrags, den er am 29. Januar beim Symposion „Susan Sontag Revisited“ am Institute for Cultural Inquiry in Berlin hielt.
Steve Wasserman
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