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Rares Menschentheater. Nina Hoss und Mark Waschke als das Paar Andrea und Boris in „Bella Figura“.
© Bernd von Jutrczenka/dpa

"Bella Figura" an der Schaubühne: Sie küssen und sie schlagen sich

Nina Hoss brilliert in Thomas Ostermeiers Berliner Uraufführung von Yasmina Rezas Stück „Bella Figura“.

Es ist doch immer wieder ein Kunststück: mit nur ein paar Strichen, Sätzen auf Anhieb eine dramatische Situation zu schaffen. Und bei Yasmina Rezas jetzt an der Berliner Schaubühne uraufgeführter Komödie „Bella Figura“ ist man sofort – mittendrin. Der abendliche Parkplatz eines Restaurants, ein Mann, er heißt Boris, steigt aus dem Auto und sagt: „... oder wir nehmen ein Zimmer im Ibis und vögeln gleich ... Wäre mir ohnehin lieber.“ Seine noch im Wagen sitzende Freundin Andrea hat sich gerade eine Zigarette angezündet, sie antwortet spitz: „Im Ibis ...!“ Nach zwei Sätzen die ersten Lacher.

Der Mann ist genervt, möchte nicht, dass in seinem Auto geraucht wird, sie ist genervt, und fragt ihren Freund, ob er es normal findet, sie hier in ein Lokal einzuladen, „das dir deine Frau empfohlen hat“. Schon scheint alles klar: Boris will die (verreiste, ahnungslose) Ehefrau außen vor lassen, er empfindet den Restauranttip einfach nur praktisch, Andrea findet Boris taktlos, die Situation im Grunde peinlich. Männer und Frauen sind eben zwei Planeten, in einem zu kleinen Universum. Außerdem konstruiert Boris Veranden, die nicht ganz den Bauvorschriften entsprechen und wird von seinen Kunden belangt, ist von der Pleite bedroht. Jetzt setzt er sich wieder ans Steuer, stößt auf dem dunklen Parkplatz ärgerlich zurück, darauf ein kurzer Aufschrei.

Boris hat eine alte Dame angefahren, die in dem Restaurant gerade mit ihrem Sohn Eric und dessen Lebensgefährtin Françoise ihren Geburtstag feiern will. Man steigt aus, hilft Yvonne, der alten Dame, wieder hoch, bloß keine Fahrerflucht, und auf den Schreck hin, das ist Andreas vermittelnder Vorschlag, geht man in dem Restaurant nunmehr gemeinsam einen Schluck trinken. Allerdings erkennen sich Boris und Françoise, denn die ist die beste Freundin von Boris’ Frau und hat natürlich schnell kapiert, was hier läuft mit Andrea. Dies bleibt nicht das letzte Schlamassel des Abends. Aber nach einer guten Viertelstunde liegen in „Bella Figura“ schon alle Karten auf dem Tisch. Der Witz ist nur: wie die 56-jährige französische Weltkomödienautorin Yasmina Reza sie immer wieder neu mischt. Und wie die fünf Akteure in Thomas Ostermeiers Inszenierung damit spielen!

Rezas Superhit "Kunst" lief vor 20 Jahren an der Schaubühne

Reza pflegt ja eine eigene Liaison mit dem deutschsprachigen Theater, seit dem Superhit „Kunst“ vor 20 Jahren an der Berliner Schaubühne. Zwei ihrer Welterfolge, „Drei Mal Leben“ und den „Gott des Gemetzels“, hat sie von Luc Bondy und von Jürgen Gosch in Wien und Zürich uraufführen lassen, und auch das Nebenwerk „Ihre Version der Geschichte“ hatte 2012 am Deutschen Theater in Berlin noch vor der Pariser Inszenierung Premiere. Nun hat sie „Bella Figura“ eigens für Thomas Ostermeier geschrieben, nachdem sie Schaubühnen-Gastspiele in Paris gesehen hatte und in Berlin zuletzt auch Ostermeiers luzide Version des Familien-Finanzthrillers „Kleine Füchse“ von Lillian Hellman. Mit Nina Hoss, Ursina Lardi und Mark Waschke.

Hoss und Waschke sind jetzt das Paar Andrea und Boris. Sie küssen und sie prügeln sich. Was im Halbdunkel in und außerhalb eines auf der Mitte der Drehbühne (von Jan Pappelbaum) geparkten Peugeots 208 beginnt und sich in offenen Szenenwechseln mit Sitzgarnitur, gedecktem Esstisch samt Langustenbecken auf der Restaurantterrasse fortsetzt und wieder auf dem Parkplatz endet, ist ein mal jäher, mal zäher Clash der männlich-weiblichen Zivilisationen. Ist wie immer bei Yasmina Reza Beziehungskistenboulevard und Menschheitssdrama in einem, mit dem poetischen Hauch von Molière, Schnitzler, Wilde und Tschechow, mit den dramaturgischen Komödienkniffen eines Alan Ayckbourn oder Woody Allen. Die sind alle Männer. Also kommen hinzu noch der ganz Reza-eigene sarkastisch melancholische Charme und die Antennen einer Autorin, die über Großstadtneurotiker oder Provinzkaufleute genauso beobachtungsscharf Bescheid weiß wie über das Innenleben einer Apothekergehilfin (Andrea), das Geheimnis einer Bettenverkäuferin, über Arzneien als Altersdrogen (Yvonne) oder die Psyche von mittelständischen Firmenjuristen (Eric).

Und manchmal, da explodiert, da implodiert nicht einfach nur die bürgerliche Fassade oder jener schöne Schein, den die Italiener die selbst in der größten Scheiße unverzichtbare „bella figura“ nennen. So sitzt Nina Hoss’ Andrea mit verrutschten Zügen, halb offener Bluse und geknautschtem Rock auf dem Restaurantklo, schluckt Pillen, zankt oder schäkert mit Boris alias Mark Waschke und erinnert sich, dass er vor Jahren, als sie das erste Mal miteinander geschlafen haben, bemerkt hatte, wie ihr BH und der Slip ihr ins Fleisch geschnitten haben. „Ich wäre nie auf die Idee gekommen, Unterwäsche zu tragen, die nicht zu eng ist.“ Nur ein Satz. Aber wie zugleich würdig und demoliert, wie selbsterkennend und doch fast beiläufig ihn Nina Hoss spricht, erzählt er ein Stück Kultur- und Gendergeschichte. Reizwäsche als Selbsteinschnitt – das sprengt die Grenzen aller boulevardesken Seitenspringerei, in der Dessous zum Design auch des modernen Weibchens gehören. Das ist Rezas Kunst.

Nina Hoss spielt sensationell

Und das macht Nina Hoss. Sie spielt diesen Abend – sensationell. Ihre Hedda, Yella, Barbara, Regina, all die tollen Film- und Theaterrollen bis hin zur Hellman-Lady schießen in dieser Feierabendliebe namens Andrea zusammen. Manchmal ist es nur ein Blick, ein Mundwinkelzucken, eine winzige Senkung der Stimme oder ein spitzer Wortpfeil, manchmal wirkt ihr Gesicht auch wie entleert, aber nicht nur als hübsch verrätselte Projektionsfläche, sondern immer weiter die Figur erzählend: ohne sie bloßzustellen, zu kommentieren oder virtuoseneitel zu überspielen. Mit und ohne Text ist das – eine wunderbare, im heutigen Theaterbetrieb nur noch selten zu erlebende Präsenz. Frei von allem Bühnengetön oder Verkünstelungspomp.

Dem reichen Mark Waschke und Renato Schuch (als Eric) mit souverän entspannter Gespanntheit nach; nur Stephanie Eidts auch im Text nicht sehr konturierte Françoise fällt ein wenig heraus mit einem unnötig manierierten Singsangton, der mehr Wiener Josefstadt ist als Berliner Schaubühne. Dafür umso brillanter die große kleine alte Schauspielerin Lore Stefanek. Ihre Yvonne, so debil wie agil (wenn’s drauf ankommt) hat die Grazie einer zwischen Serenität und Senilität schwebenden Seele, wenn sie Boris und Andrea beim Sex im Klo überrascht und die komische Contenance wahrt. Eine mittlere Darstellerin würde das aufblasen als wiederum boulevardeske Pointe: entweder forciert schockiert, faustdick amüsiert oder leicht dement verwundert – da war doch was! Aber Lore Stefanek spielt diese scheinbar gegensätzlichen Zustände in einem. Auch das birgt ein menschenwürdiges Geheimnis.

Wirklich komisch (oder traurig) ist ja, dass solches „Menschentheater“ schon als Rarität oder manchen als Kuriosität gilt. Das klingt dann, als sei Affen- oder Automatentheater die Alternative. Am Ende: Ovationen.

Schaubühne am Lehniner Platz, wieder am 18.–20. 5.; 4.–7., 9.–11., 13.–15. 6.

Peter von Becker

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