Wildes Epos über Portugal: "1001 Nacht": Sheherazade in Lissabon
Doku und Fantasy, Uralt-Legende und aktuelle Krise: In der Film-Trilogie "1001 Nacht" des Portugiesen Miguel Gomes geht alles wunderbar durcheinander.
Wie war das noch gleich mit „1001 Nacht“ und Sheherazade? In dieser orientalischen Geschichtensammlung lässt ein König namens Shahryar zunächst seine Frau töten, weil sie ihn mit einem Sklaven betrogen hat. Deshalb werden ihm von nun an gesamtgeschlechtsrachehalber allnächtlich Jungfrauen zugeführt, die er anderntags ebenfalls töten lässt. Die schöne Sheherazade wiederum, Tochter des Großwesirs, wagt den Gang in den Palast des Mörders, und die Geschichten, die sie ihm erzählt, unterbricht sie morgens mit derart tollen Cliffhangern, dass er vor lauter Spannung das Töten ganz vergisst. Und nach 1001Nächten findet die mutige Todeskandidatin Gnade.
Nun will Miguel Gomes seinen dreiteiligen Sechsstünder „As Mil e Uma Noites“, der im Abstand weniger Wochen ins Kino kommt, durchaus nicht als lineare Episodenverfilmung des Legendenstoffs verstanden wissen. Und das ist auch klug so. Denn erstens haben sich daran schon andere, etwa Pasolini 1974, mit wechselndem Erfolg versucht. Außerdem bersten die Geschichten nicht stets vor Suspense, wenn die große Raunerin „bei Anbruch des Tages verstummt“, wie auf zahlreichen Inserts zu lesen steht. Im Gegenteil, bei den häufigen morgendlichen Unterbrechungen etwa der Story vom Gesangswettbewerb der Buchfinken, mit der der Regisseur die letzten 100 Minuten seines schillernden Epos bestreitet, wäre durchaus um das Leben Sheherazades zu fürchten.
Cineasten rühmen das Werk seit Cannes 2015
Andererseits geht dem neuesten Werk des experimentierfreudigen Portugiesen seit der letztjährigen Premiere in der Quinzaine-Nebenreihe von Cannes ein gewaltiger Ruf voraus. Wer damals das auf drei Zweistünder aufgeteilte Werk sichten konnte, enteilte ihm schlichtweg verzaubert in den Festivalalltag. Und wer den frisch Verzückten vor allem des „Der Verzückte“ genannten Finales der Trilogie lauschte, mochte schon vorab in den dort geschilderten Buchfinkengesang einstimmen – mit den Wettbewerbskriterien „Pfeifen, Trillern, Schlussakkord“.
Tatsächlich ist „1001 Nacht“ ein absolut ungewöhnliches Stück Kino, und Gomes’ traditionell wilder Eklektizismus im Umgang mit Realität und Fiktion, mit dokumentarischen und fantastischen Elementen, auch sein mal altväterlich anmutendes und dann wieder anarchisches Erzählen erreichen hier einen neuen Höhepunkt. Und all das führt, ungeachtet mancher Durststrecke, faszinierend zur verlässlich nächsten hakenschlagenden Kompositionsidee und nächsten verblüffenden Bildmetapher. Überhaupt: Wer diesen Film preist, protestiert implizit gegen die stromlinienförmig zugerichteten Drehbücher, die wieder aufgekochten Stoffe und all die Konsens- und Konservenware, mit der wir Kinogänger übers Jahr so abgespeist werden.
Der Regisseur ergreift die Flucht
Es beginnt fast mit einem Kreativ-Super-GAU: Erst scheint es um die dokumentarische Aufarbeitung der Proteste gegen eine Werftschließung zu gehen, dann unvermittelt um eine mysteriöse Wespenplage – und kurz darauf macht sich der Regisseur selbst, eben noch mit depressiven Einlassungen am Cafétisch zu vernehmen, fast davon, während Ton, Bild und Thema demonstrativ jegliche Synchronizität vermissen lassen. Natürlich ist das ein sarkastischer Rausschmeißer: Wer dabeibleibt, hat das Schlimmste überstanden. Und wird hineingezogen in eine teils aus vermischten Zeitungsnachrichten gewonnene melancholische Fabel über Gomes’ Heimat in der großen Krise der Jahre 2013/ 2014. Arbeitslosigkeit, Armut, desolater Kleine-Leute-Alltag sind die dominierenden politischen Themen, die Gomes unter Vermeidung planen Klagens visuell und narrativ umso schmerzhafter auflädt – und Sheherazade wird seine rettende Rahmen-Idee.
Also tummelt sich immer wieder mal eine Schar orientalisch gekleideter Laienspieler vor der Küstenlinie Lissabons. Oder es wandeln Vertreter der aus EZB, IWF und Europäischer Kommission bestehenden Killer-Troika zu einer Konferenz, in der Portugal endgültig das Überlebenslicht ausgeblasen werden soll; nur lassen sie sich prompt durch ein von einem afrikanischen Zauberer gereichtes Potenzmittel zu unvermuteter Großzügigkeit hinreißen. Oder Langzeitarbeitslose schildern, sehr doku-realistisch, ihren Weg in die gesellschaftliche Isolation – um sich in einer mit bunt bemalten Eierkartons dekorierten Garage bei einem herzkranken Ex-Gewerkschafter fürs Atlantik-Neujahrsschwimmen mit Schicksalsgenossen zu bewerben.
Das chaotische Erzählen führt zum Wachrausch
Ist das Satire? Auch. Ist das beinharte Elendsrecherche? Ebenfalls. Ist das Poesie? Unbedingt. Schwächt dieses Nebeneinander nicht die Durchschlagskraft, die die Konzentration auf ein einziges, dafür wesentliches Element verspräche? Eben nicht. Vielmehr versetzt das bewusst chaotische Erzählen den Zuschauer in den besten Momenten in einen schönen Irritationsstatus, in einen Wachrausch, der nach immer neuen Episoden verlangt – als sei er selber jener König Shahryar und Gomes seine Sheherazade.
Die Erzählerin übrigens, gespielt von Crista Alfaiate, kommt erst im schwächsten dritten Teil groß raus, bei einem langen Ausflug fernab des Palasts. Einmal darf sie dabei sogar Riesenrad fahren mit ihrem herzensgütigen Vater. Auch schön.
Die Starttermine von "1001 Nacht": Teil 1 ("Der Ruhelose") am 28. Juli (in Berlin - jeweils in OmU - im Acud, b-ware, Brotfabrik, fsk, Il Kino und Lichtblick ; Teil 2 ("Der Verzweifelte") am 11. August; Teil 3 ("Der Entzückte") am 25. August
Jan Schulz-Ojala