Cannes: Drama der begabten Kinder
Verdrehte Welt in Cannes: Francis Ford Coppolas "Tetro" und ein verbotener Film aus China sorgen zwar nicht für einen Skandal, aber für Aufregung.
Skandale sehen anders aus. Aber eine schöne Aufregung gab es doch, als Francis Ford Coppola, Gewinner zweier angejahrter Goldener Palmen, unlängst schmollend seinen Rückzug bekannt gab: Da Cannes seinem Film „Tetro“ die Aufnahme in den Wettbewerb verweigert habe, wolle er diesmal lieber gar nicht zugegen sein. Da traf es sich gut, dass die unabhängige Nebensektion Quinzaine des réalisateurs, eher fürs Innovative als für Promi-Spätwerke zuständig, den roten Teppich für Coppola ausrollte. Die Folge: Wer eine der drei „Tetro“-Vorführungen zur Quinzaine-Eröffnung nicht versäumen wollte, tat gut daran, sich bereits eine Stunde vorher vorm Kino anzustellen. Mindestens.
Glücklich das Festival, das es sich leisten kann, einen Coppola munter zu verschmähen, um ihn sogleich umso munterer andernorts zu feiern! Der 70-Jährige jedenfalls genoss die Genugtuung in zahlreichen Interviews – noch dazu für einen überwiegend in Schwarz-Weiß und mit Digitalkamera gedrehten Film, der eher theatral daherkommt, bevor es ihn immer opernhafter ins bombastische Finale drängt. „Tetro“, angesiedelt in einem hübsch retro inszenierten Buenos Aires, erzählt von Familienclans, Rivalitäten, übermächtigen Vätern, die ihre Nachgeborenen kühl ins Selbstverwirklichungselend drängen. Auch wenn der Film autobiografische Fährten elegant verwischt: Wer will, mag darin, unter vielfach veränderten Vorzeichen, auch die Auseinandersetzung des alten Coppola mit seiner extrem erfolgreichen Tochter Sofia sehen.
Der verkrachte Dichter und Gelegenheitstheaterbeleuchter Tetro (hitzig und cool: Vincent Gallo) bekommt in Buenos Aires Besuch von seinem deutlich jüngeren, zur See fahrenden Bruder Bennie (charmant wie der frühe DiCaprio: Alden Ehrenreich). Beide leiden unter dem weltberühmten Vater, einem im fernen New York lebenden Dirigenten (Klaus Maria Brandauer). Bennie, diskret unterstützt von Tetros Gefährtin Miranda (Maribel Verdú), dechiffriert ein nahezu unleserliches Manuskript seines Bruders und erfährt Schnipsel für Schnipsel, warum Tetro nicht nur mit dem Vater, sondern mit der ganzen Familie gebrochen hat. Das letzte und schmerzhafteste Geheimnis, dessen Entschlüsselung er als erfolgreicher Vollender des brüderlichen Fragments vorbereitet, betrifft Bennie selbst.
Ein wilder Zweistundenritt, dieser „Tetro“: Wo das Theatrale sich bald lustvoll dem Theatralischen ergibt, wirkt er bloß wie das ermüdende Zeugnis eines Autorenfilmers, der hemmungslos seine mäßig aufregenden Privat-Fantasmen ins Bild setzt – hierin nicht unähnlich den deklamatorischen Egozentrismen etwa eines späten Schroeter oder Wenders. Von seiner eigenen jüngsten Ungenießbarkeit aber, „Jugend ohne Jugend“, ist Coppola mit dieser ungleich kohärenteren Partitur weit entfernt. „Tetro“ packt, vor allem auf seiner Kammerspielebene, durchaus als bewegende Familienaufstellung, als Drama der begabten Kinder, schließlich als Katastrophe angehender Männer, die ihr Restleben vernichtet sehen. Und insofern hätte dieser Film durchaus in den Wettbewerb gepasst.
Dort tummelt sich nun, was erst noch Skandal machen wird. Der Chinese Lou Ye hat 2006 „Summer Palace“, der an das Massaker am Tienanmen-Platz erinnerte, nur gegen die Zensur nach Cannes gebracht – und ist dafür vom heimischen „Filmbüro“ mit fünf Jahren Berufsverbot bestraft worden. Und was macht Lou Ye? Er dreht einfach einen neuen Film, mit Digitalkamera, fast ohne Budget, ganz an der Zensur vorbei – und zeigt ihn in Cannes. „Spring Fever“ mag, mit Wackelkamera und teils extrem körnigen Bildern bei natürlichem Licht, wie ein verspäteter Dogma-Film wider Willen daherkommen, auch für europäische Augen verspätet in seinem Kampf um die Anerkennung der Homosexualität. Tatsächlich ist er, im Beharren auf der absoluten Freiheit der Stoffwahl und des Arbeitens, vor allem ein imponierender Beweis von Mut.
„Spring Fever“ spielt zwei Ausbrüche aus der Heterosexualität mit komplementärem Ausgang durch. Eine Ehefrau sprengt mit Hilfe eines Detektivs das Liebesverhältnis ihres Mannes zu einem Dritten, was ihren Ehemann in den Selbstmord treibt. Dann beginnt der Detektiv ein Verhältnis mit diesem Dritten, worüber die Freundin des Detektivs so lange verzweifelt, bis sie diese andere Verbindung auch als Form von Zärtlichkeit und Liebe anerkennen lernt. Das mag schematisch klingen; auf der Leinwand setzt sich diese Konstruktion als inspirierend und auch irritierend wirres Mosaik zusammen, als chaotische Reise durch Schwulenbars und Karaoke-Nächte, als zerrissene Bilderfolge, die merkwürdigerweise in ihren Sexszenen am ehesten zur Ruhe kommt. Was für eine wunderbare Scheu mitten in der Bekenntniswut! Hoffentlich wird das Kino überall – und eines Tages auch in China – „Spring Fever“ zeigen.
Bei solch allseitigen Anstrengungen der auteurs tut ein Genrefilm gut – aber wenn sich der Koreaner Chan-Wook Park des reichlich ausgelutschten Vampirfilms bemächtigt, ist dann Genre zu erwarten? 2004 holte er in Cannes mit dem überwältigenden Rachedrama „Oldboy“ den Großen Preis der Jury, und auch „Thirst“ ist zuallererst eine faszinierende cineastische Albtraumfantasie. Ein Priester (Song Kang-Ho) wird, nachdem er sich zur Eindämmung einer Seuche an einem medizinischen Test beteiligt und zunächst daran stirbt, als Vampir wiedergeboren. Sein Blut entnimmt er allerdings, nach wie vor priesterlich hochmoralisch, nur Todkranken oder frischen Selbstmördern. Als er, zu Besuch bei einem Jugendfreund, dessen Schwester (Kim Ok-Vin) wiederbegegnet, hebt eine aufregende, herzzerreißende, tragische, sogar philosophisch ergiebige Liebesgeschichte an. Sie wird zur Vampirin, nur ohne Moral.
Nur so viel noch zu diesem umwerfenden – und natürlich extrem blutigen – Film: Eine Stunde anstehen musste man dafür nicht. Aber man tat gut daran, in der Stunde danach nicht schlafen zu gehen. Mindestens.