Kultur: 1002 Nächte
Sema Kaygusuz erzählt funkelnde Geschichten.
Scheherazade lebt. Offenbar hat sie sich in einem neuen Körper eingenistet. Heute trägt sie den Namen Sema Kaygusuz, ihre Geschichten sind komplexer geworden, aber immer noch so fesselnd wie die aus tausendundeiner Nacht. Mit einem buchstäblichen Paukenschlag beginnt „Schwarze Galle“, der Erzählband dieser 1972 an der türkischen Schwarzmeerküste geborenen und heute in Istanbul lebenden Autorin, deren Debütroman „Wein und Gold“ 2008 bei Suhrkamp auf Deutsch erschienen ist.
Es ist Gilgamesch, der da auf die Pauke haut, weil er an Schlaflosigkeit leidet. Die alten Götter kannten keinen Schlaf, heißt es gleich im ersten Satz. Gilgamesch aber habe aus „zwei Bissen Gottheit und einem Bissen Mensch“ bestanden. Kaygusuz führt den Leser gleich zu Beginn an den mythischen Ursprung der Literatur, um von da aus acht parabelartige Erzählungen auszubreiten, in denen das Reale mit dem Fiktiven verschmilzt und das Archaische und die Gegenwart kraftvoll zusammenprallen. Das Trommeln lässt nicht nach, es bestimmt den Rhythmus des Textes. Den Rahmen der Geschichten bildet die Schlaflosigkeit der – von Gilgamesch angesteckten – Ich-Erzählerin und ihrer Figuren, die sich alle „hinter dem Schleier einer tiefen Verträumtheit“ verbergen. Und wenn sie nicht, wie Scheherazade, ums nackte Überleben kämpfen – die schöne Wesirstochter zieht bekanntlich den persischen König Schahrayâr in den Bann ihrer Geschichten, um ihre Hinrichtung zu verhindern –, so kämpfen sie doch darum, sich ihres Lebens und Überlebens gewahr zu werden, kurz: Leben zu lernen.
Eine dieser somnambulen Gestalten ist die reale türkische Dichterin Birhan Keskin, der die Autorin einen Besuch abstattet. Andere Figuren sind erfunden oder auch nicht erfunden. Die sich kommentierend und reflektierend immer wieder in den Textfluss einschaltende Erzählerin lässt das offen. Da gibt es Bora, der eine Flaschenpost mit einem Gutschein für einen Gratisanzug findet, den ihm die kluge Schneiderin Helin nach Maß anfertigt. Die Begegnung beflügelt das Reflexionsvermögen des jungen Mannes. Auch die Erzählerin der Episode „Heimsuchung“ lernt an sich neue, bei Weitem nicht nur freundliche Seiten kennen, als plötzlich eine Handwerkerin vor ihrer Tür steht und anbietet, Töpfe zu reinigen und vorübergehend ihr komplettes Denken und Tun bestimmt. Eine weitere Figur ernährt sich ausschließlich von Bienenhonig, und das eigentlich dünne Mädchen Zühal wird immer dicker, weil es alles in sich hineinfrisst, bis es endlich lernt zu teilen.
Allesamt sind die Figuren von unterschiedlichen Melancholiefacetten geprägt. Der etymologische Ursprung des Begriffs Melancholie – „melancholia“ bedeutet im Griechischen „schwarze Galle“ – verleiht dem Buch seinen Titel, obgleich es auch seine überaus hellen, warmen und witzigen Seiten besitzt. Kaygusuz ist eine geborene Geschichtenerzählerin. Weil ihr Vater vom Militär ständig versetzt wurde, lernte sie schon als Kind viele Landstriche der Türkei kennen und die orale Kultur der jeweiligen Regionen. „Nein, dachte ich, nein, nein, nein, ich bin nicht in der Lage zu erzählen, wie die Leidenschaften einer Dichterin wach und lebendig werden, wenn sie von Schlaflosigkeit geplagt ist und aus ihrem Schlaf gerissen wird“, schreibt sie. Natürlich muss man widersprechen: Sie kann erzählen. Und wie! Tobias Schwartz
Sema Kaygusuz: Schwarze Galle. Geschichten. Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe. Matthes & Seitz, Berlin 2013. 128 Seiten, 17,90 €. – Die Autorin stellt ihr Buch am Mittwoch, 29.5., um 20 Uhr in der DAAD-Galerie (Zimmerstraße 90) im Gespräch mit Katja Lange-Müller und Susanne Stemmler vor.
Tobias Schwartz
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