Paavo Järvi in der Philharmonie: Schöne Stellen
Paavo Järvi dirigiert bei den Berliner Philharmonikern Anton Bruckner - und zwar seine schwierigste Symphonie. Das Ergebnis ist anfangs traumhaft – dann geht etwas schief.
Jeder Berliner Philharmoniker ist ein begnadeter Solist. Das zeichnet diese Orchesters aus. Einerseits. Andererseits kann es wechselnden Gastdirigenten unter Umständen Kummer bereiten. Aber doch nicht Paavo Järvi, dem vertrauten Freund des Hauses! Er ist angereist, um die Symphonie Nr.2 c-moll von Anton Bruckner zu dirigieren: die mit den vielen Themen, den vielen Generalpausen, die wahrscheinlich ungeliebteste, sicher schwierigste aller Bruckner-Symphonien. Zuletzt wurde sie von den Berliner Philharmonikern vor zwölf Jahren gespielt, unter Seiji Ozawa. Järvi indes hat sie gerade erst vor vier Tagen in Hamburg mit dem NDR-Orchester in der Elbphilharmonie aufgeführt, ebenfalls in der Fassung von 1877, die von William Carragan für die historisch-kritische Neue Gesamtausgabe erarbeitet wurde. Beste Voraussetzung also für einen großen Abend. Und dann ging etwas schief.
Järvi startet so bedächtig ins Allegro, als müsse man das schnell und heiter auf dem Streichertremoloteppich hereinschwebende erste Thema doch schon mit einer Prise Pathos aufladen, mit Blick auf den späten Bruckner. Wundersüß singen die Celli, entschieden sonor übernehmen die Kontrabässe, die Trompete strahlt quer hinein. Aber schon die erste Generalpause, bevor das tanzbodensatte zweite Thema anhebt, tönt nicht wie eine Pause. Mehr wie ein Loch. Und nach und nach fällt die Musik dann auseinander.
Hier kommt es auf jeden Einzelnen an
„Hier habe ich etwas Wichtiges zu sagen!“, so brachte Bruckner die Funktion seiner Generalpausen auf den Begriff: sie bauen Spannung auf, wie Ausrufezeichen, sie schaffen Kontext. In der seltsam disparaten Lesart der Philharmoniker aber baut sich nichts auf oder ab. Kein Kontext, stattdessen: viele einzelne, schöne Stellen. Traumhaft die fein ziselierten Diskurse der Holzbläsergruppe, die blühenden Hornsoli von Stefan Dohr, und eine Wucht die sich aufbäumenden Tutti-Steigerungen. Jede Stimmgruppe sorgt für sich. Und das bleibt so, bis zum Finale, selbst im seligen Benedictus-Andante.
Vor der Pause hatte Mojca Erdmann, kurzfristig eingesprungen für Hanna-Elisabeth Müller, ihren klaren, geradlinigen Sopran in den Dienst der Sieben Frühen Lieder von Alban Berg gestellt. Bekanntlich nimmt Bergs Instrumentation nicht in allen diesen Liedern Rücksicht auf die Stimme, erst im dritten, der „Nachtigall“, wenn die Bläser schweigen, kommt sie zu ihrem Recht. Den Höhepunkt hatte das Konzert schon am Anfang erreicht, mit Weberns genialer Bearbeitung des Bachschen Ricercars, die wie geschaffen ist für den Glanz philharmonischer Individualitäten: Hier kommt es auf jeden einzelnen an.
Eleonore Büning