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Klare Vorstellungen: der Dirigent Paavo Järvi.
© Kaupo Kikkas

Paavo Järvi bei den Berliner Philharmonikern: Unruhegeister

Ein Dirigent, der weiß, was er will: Paavo Järvi leitet ein Konzert der Berliner Philharmoniker.

Manchmal kommt Kunst von Klarheit: Paavo Järvi weiß, was er will. Wenn der 58-jährige Maestro aus Estland Witold Lutoslawskis Konzert für Orchester mit unmissverständlicher Diktion, ja Schärfe angeht, lässt er dennoch nie Kaltblütigkeit walten. Järvi versteht es vielmehr, mit seinem Elan und seiner meisterlichen Souveränität die Berliner Philharmoniker zu elektrifizieren. Schon im irrwitzigen 9/8-Eröffnungssatz setzen die Streicher ihre Bögen derart unerbittlich an, als wollten sie die Saiten zum Reißen bringen. Nicht um der Gewalt, sondern um des Ausdrucks willen, einer existenziellen, zerquälten Unruhe, die im Capriccio mit seinen flirrenden Sechzehnteln und zefledderten Motiven eigentümlich entkörperlichte Schemen hervorbringt.

Das von 1950 bis 1954 entstandene letzte, noch nicht aleatorische Frühwerk des polnischen Komponisten ist von einer latenten Bedrohung gefärbt, einem unterschwelligen Terror, der sich immer wieder Bahn bricht und noch den Bläserchoral nach dem gezupften, abgrundtiefen Passacaglia-Thema der Kontrabässe zum Zerrbild entstellt. Järvi betreibt die Mechanisierung der Musik, lässt die Philharmoniker aber auch zum Maschinensturm blasen und rettet das menschliche Maß, indem er dessen heillose Gefährdung offenlegt. So kantig und diszipliniert Järvi den Orchesterapparat mitunter befehligt, mit unter Hochspannung zuckenden Gliedern, es sind dann doch die losen Enden zum Schluss des Eröffnungssatzes, die einen besonders bewegen. Diese versprengten, hastig zusammengefegten letzten Reste von Harmonie und Intimität.

Die Konzertmeister stecken leidenschaftlich ihre Köpfe zusammen

Nach der Pause geht Järvi die 2. Sinfonie von Johannes Brahms im Geiste Lutoslawskis an. Schon das eröffnende Kontrabass-Motiv, die schwankende kleine Sekunde, evoziert Lutoslawskis Passacaglia-Thema. Sie ist eben keine Begleitfloskel, sondern ein Menetekel. Von wegen wegen heiter-behaglicher Brahms: Järvi kehrt die verdüsternden Störmanöver hervor und wählt langsame Tempi, sodass Brahms’ charakteristische Duolen-Triolen-Rhythmik erst recht zur Zähflüssigkeit beiträgt. Es rumort – unentwegt.

In seiner letzten Chefdirigenten-Saison hatte auch Simon Rattle es mit einem harschen, gnadenlosen Brahms versucht, er konnte nicht überzeugen. Järvi hält die Balance zwischen Schönheit und Schrecken, verleiht schon dem somnambulen Cello-Bratschen-Seitenthema im 1. Satz utopischen Charakter. Schön zu sehen, wie einmütig die Philharmoniker mit Järvi musizieren, mit welcher Leidenschaft allein die Konzertmeister Daishin Kashimoto und Noah Bendix-Balgley die Köpfe zusammenstecken.

Noch einmal diesen Sonnabend, 20.10., 19 Uhr.

Christiane Peitz

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