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Carl Nielsen war ein Komponist mit Humor. Anlässlich seines 150. Geburtstags wurde er jetzt beim Musikfest Berlin gefeiert.
© Königliche Dänische Biblothek

Musikfest Berlin: Schön bergsteigen

Kunst kommt hier von zuhören können: Ein Resümee des Musikfest Berlin 2015 - und eine letzte Kritik zum Auftritt des Arditti Quartetts

„Nicht nur zum Vergnügen!“ Die strengen Worte, die im alten Opernhaus von Kopenhagen in goldenen Lettern am Bühnenportal prangen, hätten auch ein gutes Motto fürs „Musikfest Berlin 2015“ abgegeben. Einmal mehr nämlich forderte Festivalmacher Winrich Hopp das Publikum mit radikal anspruchsvollen Programmen heraus. Schwerpunkte lagen seit dem 2. September auf Arnold Schönberg sowie auf dem vor 150 Jahren geborenen Dänen Carl Nielsen. Dazu gab es viel von Gustav Mahler – aber nur die komplexesten, rätselhaftesten Werke –, sowie Schwergewichtiges von Avantgardisten wie Stockhausen und Birtwistle.

Bei Winrich Hopp kehrt sich die Verteilung von Kanon und Randständigem, wie man sie aus dem Konzertalltag gewohnt ist, radikal um: Wo sonst zeitgenössische Kompositionen vorsichtig ins Kennen- wir-Lieben-wir eingewoben sind, erfüllen hier altbekannte Meisterwerke die Funktion von Feigenblättern: In den großen Sinfoniekonzerten erklangen je einmal Beethoven und einmal Schubert.

Ein protestantischer Geist schwebt über diesem Musikfest, kein katholischer. Berühmte, gefeierte Künstler geben sich die Klinke in die Hand, Andris Nelsons war mit dem Boston Symphony da, Zubin Mehta mit dem Israel Philharmonic, dazu nationale Spitzenformationen aus Kopenhagen und Stockholm. Aber nicht der Glanz, die Repräsentation stehen bei diesen Gastspielen wie den Auftritten der Berliner Orchester im Vordergrund – sondern der Inhalt, die verwegene Werkauswahl. Kunst kommt hier von zuhören können. Das Publikum wird beim Musikfest genauso gefordert wie die Interpreten, wenn es gilt, sich aufs Ungewohnte einzulassen.

Gerade im Fall von Carl Nielsen hat sich Hopps Impetus gelohnt, vom Mainstream ins Abseits Gedrängtes zurück ins Licht zu rücken – und es geht ja weiter mit der Entdeckung des Dänen, in den kommenden Wochen, im Felleshus der Nordischen Botschaften. Angemessen erschöpft können wir nun dem never ending festival der hauptstädtischen Kultursaison entgegensehen, mit der – selbstredend rhetorisch gemeinten – Frage Arnold Schönbergs im Ohr: „Ist es nicht Pflicht jedes Künstlers, Dir das zu sagen, was Du nicht weißt, was Du noch nie gehört hast, was Du selbst niemals herausfinden, entdecken, ausdrücken könntest?“ Frederik Hanssen

Das Arditti Quartett begeistert mit Gelassenheit

Schönberg am Morgen: eine gute Art, in den Sonntag zu starten. Jedenfalls wenn das Arditti-Quartett zum Musikfest-Ausklang Schönberg spielt und dessen drittes, exakt die Balance zwischen Gattungskonvention und Zwölfton-Erneuerung aussteuerndes Streichquartett Opus 30 von 1927 mit einer Gelassenheit zu Gehör bringt, die jede Dissonanz zur harmonischsten Sache der Welt erklärt.

Neue Musik als Methode, dem Hörer die konditionierten Ohren zu waschen, als Kunst der Verstörung? Nicht so bei den meisterlichen Ardittis. Einen historischen Neutöner wie Arnold Schönberg erklären sie kurzerhand zum Klassiker (der er im heutigen Konzertbetrieb ja längst sein sollte), lassen ihm ein elegantes mozartisches Mezzoforte angedeihen, verzichten selbst in den expressiven Passagen des Kopfsatzes und des Rondos auf allzu kräftigen Bogendruck und betten jeden Accelerando-Aufruhr ins Lyrische ein. Diese Musik ist nie rechthaberisch. Sie breitet die Arme aus und vergisst sich am Ende einfach. Stimmt ja, Schlussakkorde werden überschätzt.

Ein Komponist mit vielen Gesichtern...
Ein Komponist mit vielen Gesichtern...
© Königliche Bibliothek Kopenhagen

Je mehr Jahre das 1974 gegründete, auf die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts spezialisierte Ensemble auf dem Buckel hat, desto entspannter intoniert es noch die kompliziertesten Werke. Vierteltöne und Mikrorhythmen, nichts leichter als das? Wenn man sie draufhat, schon. Oder, wie der auch im Kammermusiksaal sichtlich gut gelaunte Primgeiger und Quartettgründer Irvine Arditti gerne zu sagen pflegt: „Nichts ist unmöglich, wenn man nur lange genug daran arbeitet.“

Die Gelassenheit des Quartetts, das Wert auf eine enge Zusammenarbeit mit den Komponisten legt, hat ansteckende Wirkung. Selbst der Brite Brian Ferneyhough, Jahrgang 1943, einer der anspruchsvollsten Gegenwartskomponisten überhaupt, klingt bei dieser Musikfest-Matinee plötzlich nicht mehr nach chronischer Überforderung und radikaler Harmonie-Verweigerung, sondern nach Entdeckerlust und Spielfreude.

Irvine Arditti und seine Mitstreiter Ashot Sarkissjan (zweite Geige), Ralf Ehlers (Bratsche) und Lucas Fels (Cello) verwandeln Ferneyhoughs Streichquartett Nr. 6 von 2010 in eine Art Sphärenmusik. Zauberisch verwehte Klangfetzen, zuckende Figurinen, von Glissandi durchwirkte, zart durchlöcherte Kantilenen, Flageoletts, die sich bis ins Gläserne härten – fast 25 Minuten nonstop. Eine Odyssee in luftigen Höhen, man verliert sich gerne darin. Christiane Peitz

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