Carl Nielsen beim Musikfest Berlin: Mein Land, so weit
Die Terz als Gottesgeschenk: Das Musikfest Berlin feiert den 150. Geburtstag des dänischen Komponisten Carl Nielsen.
Das dänische Odense hat zwei berühmte Söhne, Hans Christian Andersen und Carl Nielsen. Wobei sich die Bekanntheit beider jeweils nur aus einem kleinen Ausschnitt ihres Werkes speist. Im Fall des 1805 geborenen und 1875 gestorbenen Andersen sind es nicht die 14 Romane, 50 Bühnenstücke und 1000 Gedichte, die zum Weltkulturerbe wurden, sondern eine Handvoll Märchen. Nielsen, dessen 150. Geburtstag in diesem Jahr gefeiert wird, gehört dank seiner schlichten Lieder heute noch zur Alltagskultur der Dänen, während er im Ausland allein für seine Sinfonien bekannt ist.
Im Leben der zwei Männer spielen Seile eine wichtige Rolle. Hans Christian Andersen trat keine Reise an, ohne sich vergewissert zu haben, dass sich in seinem Gepäck ein Hanfstrick befand. Nichts ängstigte ihn mehr als die Vorstellung, als dass nachts im Hotel ein Feuer ausbrechen könne und er dann keinen Fluchthelfer zur Hand habe. Carl Nielsen wiederum schob Ende September 1931 im königlichen Opernhaus von Kopenhagen eine Gruppe von Bühnenarbeitern beiseite, die ratlos in die Höhe starrten, wo sich ein Dekorationsteil zwischen den Soffitten verklemmt hatte. Der 66-Jährige mit dem charakteristischen Bürstenhaarschnitt hielt sich viel auf seine Kletterkünste zugute, erklommt auch mühelos das Seil und behob den Schaden. Wenige Tage später war er tot – an sein krankes Herz hatte der Komponist nicht gedacht.
Zwischen Autografen, Theaterplakaten und Kostümen wird jenes fatale Seil heute im Nielsen-Museum von Odense aufbewahrt. Stolz sind sie hier, dass auch der wichtigste nationale Komponist von der Insel Fünen stammt. Wer in der Verwaltung der 170 000-Einwohner-Stadt anruft, hört in der Warteschleife Musik aus der Nielsen- Oper „Maskerade“, im Promofilm des Stadtmarketings sieht man einen Skateboarder durch die Straßen fahren, der sich Nielsen-Musik auf die kopfhörerbewehrten Ohren gelegt hat.
Der Gutsherr hört, wie er Musik aus Holzscheiten macht - und schenkt ihm ein Musikstipendium
Von den drei Häusern, in denen Nielsen seine Kinderjahre verbringt, steht nur noch eines, einige Kilometer außerhalb der Stadt, eine weiß getünchte Bauernkate mit pittoreskem Reetdach und knorrigen Weiden vor der Tür. Wie „ein Palast voll Licht und Freude“ erschien dem Knaben die bescheidene Behausung. In den beiden voran gegangenen Domizilen der 14-köpfigen Familie herrschte eine noch größere Enge. Der Vater hat eine Ausbildung als Anstreicher, verdient seinen Lebensunterhalt aber, indem er mit seiner Fiedel bei Dorffesten und Hochzeiten aufspielt. Seinen Kindern erteilt er rudimentären Geigenunterricht, der kleine Carl aber erweist sich als so begabt, dass er bald weitere Instrumente lernt und erstes eigenes Geld als Signalhornbläser bei der örtlichen Militärkapelle verdient.
Als der Gutsherr aus der Nachbarschaft miterlebt, wie Carl dem Holzstapel hinter dem Haus Musik entlockt, indem er auf den Scheiten Töne erzeugt, erhält er ein Stipendium für die Kopenhagener Musikhochschule. Einen Kompositions-Studiengang gibt es dort nicht, also verfeinert Nielsen seine Fertigkeiten auf der Violine. 1887 ergattert er eine Stellung beim Orchester des Vergnügungsparks Tivoli, hier bringt er auch seine „Kleine Suite für Streicher“ zur Uraufführung – so erfolgreich, dass er ins königliche Opernhaus wechseln kann. Bis 1914 wird er hier arbeiten, ab 1908 als Kapellmeister.
Dauerhafte Anerkennung in Deutschland bleibt ihm verwehrt
Zuvor aber reist er als Stipendiat durch Deutschland, Italien und Frankreich und lernt in Paris seine spätere Ehefrau kennen, die dänische Bildhauerin Anne Marie Brodersen. Es ist Liebe auf den ersten Blick, doch die Beziehung gestaltet sich nicht immer leicht. Beide erringen gesellschaftliches Ansehen, Brodersens lebensnah wirkenden Tierplastiken sind gefragt, das Königshaus bestellt ein monumentales Reiterstandbild von Christian IX. Nielsen wiederum etabliert sich mit dem biblischen Musikdrama „Saul og David“ sowie der heiteren Oper „Maskerade“ an den Bühnen und beeindruckt das Konzertpublikum mit seinen Orchesterwerken. Außerdem schreibt er unermüdlich Lieder, „folkelige Melodier“, beseelt von dem Gedanken, so eine Brücke zwischen Hoch- und Populärkultur schaffen zu können.
Wann immer sich die Möglichkeit bietet, dirigiert Nielsen seine Werke im Ausland, vor allem in der Berlin will sich der Verehrer von Mozart und Brahms etablieren. Im Januar 1903 widmet er Ferruccio Busoni seine 2. Sinfonie und stellt sie ihm vor. Busoni vermittelt daraufhin tatsächlich einen Kontakt zu den Berliner Philharmonikern. Die von Nielsen geleitete Aufführung des Stücks wird allerdings nicht mehr als ein Achtungserfolg. Zwei weitere Berlin-Aufenthalte in den Jahren 1922 und 1923 folgen, anders als in Großbritannien aber bleibt ihm dauerhafte Anerkennung in Deutschland verwehrt.
In Herbert von Karajans monumentaler Diskografie mit den Philharmonikern findet sich nur Nielsens 4. Sinfonie, 1994 dirigiert Simon Rattle in Berlin die Fünfte. Der britische Maestro ist es auch, der Winrich Hopp, der künstlerischen Leiter des Berliner Musikfests, dazu inspiriert hat, diesen September eines Nielsen-Schwerpunkt zu setzen.
Beim Musikfest werden mehrere Symphonien Nielsens erklingen - und auch andere Werke
Als Rattle 2013 den dänischen Leonie-Sonning-Musikpreis erhält und zum Dank ein Nielsen- Programm mit der Königliche Kapelle in Kopenhagen einstudiert, schickt er Hopp eine begeisterte SMS. Fünf Jahrzehnte zuvor hatte der Sonning-Preis schon Leonard Bernstein zum Nielsen-Fan gemacht: „Seine Musik ist prophetisch und besitzt einen neurotischen Enthusiasmus!“, schwärmte Rattle – und brachte mit dem New York Philharmonic eine Gesamtaufnahme aller sechs Sinfonien heraus. Eine interpretatorische Großtat, die das amerikanische Orchester gerade mit Alan Gilbert wiederholt hat. Überhaupt herrscht heute kein Mangel an Nielsen-CDs, von Herbert Blomstedt gibt es einen Zyklus mit dem San Francisco Symphony Orchestra, und auch Michael Schönwandt hat die Werke seines Landmanns mit dem Danish National Symphony Orchestra eingespielt.
Beim Musikfest Berlin wird die Königliche Kapelle Kopenhagen Nielsens Heimat vertreten. Mit ihrem Chefdirigenten Michael Boder präsentieren sie die 5. Sinfonie mit dem berühmten Trommelsolo. Das Mahler Chamber Orchestra und Thomas Dausgard haben sich die Sechste ausgesucht, das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin und Marek Janowski die Dritte. Das hoch gelobte Danish String Quartet spielt die vier Streichquartette, Simon Rattle wird mit den Philharmonikern neben der Tondichtung „Pan und Syrinx“ die 4. Sinfonie vorstellen, jenes Werk aus dem Jahr 1916, das der Komponist unter das Motto gestellt hat: „Musik ist Leben – auch sie ist unauslöschlich“.
Nielsen ist kein Romantiker, mit den Opern Puccinis kann er ebenso wenig anfangen wie mit den Sinfonien Gustav Mahlers. Was ihn fasziniert, ist die Musik der jungen Wilden, von Janácek und Bartók, vor allem aber von Strawinsky und Schönberg. Dennoch hält er stets das Ideal der Einfachheit hoch, der klaren und reinen Musik: „Man muss dem Auditorium zeigen, dass das melodische Intervall der Terz ein Gottesgeschenk ist, die Quarte eine Offenbarung und die Quinte höchste Glückseligkeit. Gedankenlose Überfeinerung untergräbt die Gesundheit.“
Alles Akademische liegt dem Dänen fern, am Beginn einer Komposition weiß er oft nicht, wohin ihn der Weg führen wird, erklärt Thomas Michelsen, Nielsen-Kenner und Klassik-Kritiker der Tageszeitung „Politiken“. Ohne festen „Bauplan“ gibt er sich dem Strom seiner Ideen hin, lässt die Sätze jeweils aus einem melodischen Kern heraus organisch wachsen. „Seine Sechste beispielsweise kündigt er als ,sinfonia semplice’ an, doch am Ende wird es eine komplexe Auseinandersetzungen mit den unterschiedlichen Strömungen der europäischen Musikszene.“ Das Hauptmotiv zu seiner Dritten fällt dem Komponisten während einer Straßenbahnfahrt ein – er notiert es sich auf seiner Hemdmanschette.
Carl Nielsen ist ein Mann der entschlossen gesetzten Themen, der klar umrissenen Linie. Dabei bleibt stets spürbar, dass sein Hauptinstrument die Geige war. Gerade die vier reifen Sinfonien beeindrucken durch die Weite ihres stilistischen Horizonts. Ihre Klangfarben sind herb und hell, wie das Licht an dänischen Frühsommertagen. Eine faszinierend eigenständige Musik hat dieser große Geist aus kleinen Verhältnissen geschaffen, vital und originell, stets von melodischem Gestus getragen. „Es schadet nichts, in einem Entenhofe geboren zu sein“, heißt es bei Hans Christian Andersen, „wenn man in einem Schwanenei gelegen hat.“
Das Musikfest beginnt am 2. September, ab dem 9. September ist im Foyer der Philharmonie auch eine Ausstellung zu Carl Nielsen zu sehen. Mehr unter: www.berlinerfestspiele.de
Frederik Hanssen