Zeichnungen von Nanne Meyer: Schnittmuster der Welt
„Im Atelier“: Die Zeichnerin Nanne Meyer gewährt in der Stiftung Brandenburger Tor einen Einblick in ihr Schaffen.
Wenn Nanne Meyer über Sprache spricht, beginnen die Wörter zu wanken. Meyer klopft sie ab: auf ihre Mehrdeutigkeit, den Symbolgehalt, ihren Wortwitz. Was herauskommt, wenn die Künstlerin die Buchstaben durch ihre zarten Zeichnungen ergänzt, hängt nun an einer Wand im Max-Liebermann-Haus. Lauter Blätter, die lapidaren Begriffen wie „erheblich“ oder „ohnehin“ eine neue Bedeutung verleihen. Etymologisches interessiert sie dabei nur am Rand. Viel wesentlicher sind die individuellen, assoziativen Erweiterungen ins Surreale und manchmal Absurde – wie bei „lediglich“, das Nanne Meyer zerteilt, um mit den Worten „ledig“ und „ich“ motivisch zu spielen.
„Von wegen“, der Titel ihrer Ausstellung, ist auch ein Fall schalkhaften künstlerischen Jonglierens. Umgangssprachlich steht es für die totale Verneinung, doch wenn man beide Worte für sich nimmt und leicht variiert, verändert sich ihr Sinn komplett. Von Wegen: Und Wege sind ihrem Werk so nah, denn Meyer hat die Ausstellung der Reihe „Im Atelier Liebermann“ mit altem Kartenmaterial gefüllt. Mit Stadtplänen, Seiten aus historischen Atlanten und geografischen Schautafeln, wie sie früher in jedem Klassenraum hingen. Die Schulen misten sie seit Jahren aus. Weil sie altmodisch daherkommen, aber auch, weil ihre Informationen in vielen Fällen überholt sind. Die Grenzen der DDR sind wie jene der Sowjetunion lange Geschichte, das Jugoslawien der neunziger Jahre gibt es nicht mehr.
Die Künstlerin, Jahrgang 1953, rettet die aufwendig gedruckten, aufrollbaren Karten, zu denen sie ein fast zärtliches Verhältnis pflegt. Und während sie noch über deren Schönheit spricht, geht einem durch den Kopf, dass die Künstlerin mit ihren poetischen Interventionen gleichzeitig symbolische Landnahme betreibt: Sie übermalt die kartografierte Welt, löst Grenzen auf, zieht neue, schneidet ganze Partien weg und markiert auf der anderen Seite, was in ihren Augen wichtig ist.
Blicke in den Sternenhimmel
Auslöschung und Überschreibung, das sind kriegerische Akte. Nanne Meyer widmet sie um in künstlerische Prozesse, und vielleicht macht dies einen Teil der Faszination aus, den ihre „Kartenarbeiten“ genannten Bilder auf den Betrachter ausüben: dass die schematischen Ansichten von Ländern, Flüssen, Bergen und Bodenschätzen von einer dunklen Farbschicht überzogen sind, die das darunter Liegende immer noch ahnen lässt, wie etwa in der Arbeit „Zeitverschiebung“, in der sie bloß kleine, gelb und rot leuchtende Punkte übrig lässt.
Eine Ahnung von ihrer subjektiven Perspektive vermittelt das männliche Porträt „Kartoköpf“ (2016). Es steht als Beispiel einer ganzen Serie, in der aus kartografischen Linien menschliche Gesichter erwachsen. Aus den „Schnittmustern“ der Welt formen sich ihre Bewohner, von denen manche wie mythische Trolle und andere wie historische Figuren aussehen. Für Nanne Meyer sind diese Wesen bereits im ursprünglichen Material verborgen, man muss sie bloß sehen.
Die Ausstellung feiert diesen schöpferischen Reichtum über beide Etagen des Liebermann-Hauses, und man muss der Stiftung Brandenburger Tor dankbar dafür sein, dass sie den Titel der Reihe „Im Atelier“ derart ernst nimmt. Natürlich steht man nicht in Meyers eigenem Studio. Doch die Fülle der versammelten Arbeiten gibt einen tiefen Einblick in ihr Werk, für das sie 2014 mit dem Hannah- Höch-Preis ausgezeichnet wurde. Die Fundkarten aus der Vogelperspektive und ihre persönlichen Ergänzung machen einen Teil der Arbeit aus. Begleitet werden sie durch Blicke in den Sternenhimmel – oder aus dem Flugzeug in das Blau-Weiß eines Wolkenhimmels, den Meyer während der Reise festhält.
Momenthaftes, Gedankenspiele, kleinste Motive
Ihre Arbeiten hängen schutzlos im Raum, Blätter werden mit ein paar Nägeln festgepinnt, die großen Karten verdübelt. Man soll ihnen nahekommen. Die haptische Qualität der Farben, die Struktur und die Spuren auf den alten Papieren, Meyers feine Details und tiefe Schnitte, dank derer die Motive dreidimensional werden, das alles verlangt nach einer intensiven Beschäftigung. Genau wie jene „Jahrbücher“, die seit dreißig Jahren entstehen und an übergroße Notizbücher erinnern. In ihnen versammelt sich, was die Künstlerin festhalten will: Momenthaftes, Gedankenspiele, kleinste Motive, die später zu autonomen Arbeiten wachsen können. Auch wenn sie unter Glas liegen, entsteht der Eindruck, man habe einen Moment lang in den Kopf der Künstlerin geschaut.
Meyer ist die vierte Künstlerin der Reihe „Im Atelier“. Eine Idee aus der Zeit, als Pascal Decker noch im Vorstand der Stiftung saß. Der Anwalt und Kunstfreund war seit 2006 Mitglied, Ende Mai dieses Jahres schied er überraschend aus dem für das Max-Liebermann-Haus wichtigen Gremium aus. Becker begründete seinen Rückzug mit der „hohen zeitlichen Anforderung seines Unternehmens“. Doch wer ihn als Ideengeber für das Programm und die Ausrichtung der Institution erlebt hat, der weiß, dass dies Deckers Herzenssache war. Nun sitzen mit Bianca Richardt und Kai Uwe Peter zwei Mitarbeiter der Berliner Sparkasse im Vorstand, die die Kulturstiftung betreibt. Es bleibt zu hoffen, dass die neue Besetzung ein erfolgreiches Format wie die Atelierpräsentation beibehält.
„Nanne Meyer. Von wegen“, Stiftung Brandenburger Tor im Max-Liebermann-Haus, Pariser Platz 7, bis 3. 11., Mo & Mi–Fr 10–18 Uhr, Sa/So 11–18 Uhr
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