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Witz und Esprit. Die gebürtige Hamburgerin Nanne Meyer lehrt seit 20 Jahren Kunst in Weißensee.
© Thilo Rückeis

Hannah-Höch-Preis für Nanne Meyer: Die Linienspielerin

Gerade erhielt Nanne Meyer für ihr Lebenswerk den Hannah-Höch-Preis. Eine Ausstellung zeigt das Berliner Werk der Zeichnerin.

Die Frau hat einen Plan. 35 Zeichnungen liegen im Kupferstichkabinett vor Nanne Meyer auf dem Boden, daneben ein Zettel, auf dem sie Höhen und Maße notiert hat. Sie lässt den Meterstock sinken. Um zwei Zentimeter verschieben, dann würden die Blätter noch besser an der Wand wirken. Die Frau hat nicht nur einen Plan. Sie hat viele.

So wie das Bilderhängen Zentimeterarbeit ist, so fügt sich das Zeichnen den Millimetern. „Häufigkeitspapier“ steht auf den 35 Bögen gedruckt. Auf das Raster könnte man Kurven einzeichnen. Nanne Meyer hat lauter Renaissance-Köpfe abgebildet. In italienischen Museen war ihr aufgefallen, wie oft dort Männer mit roten Hüten zu sehen sind. Deshalb passt das mit dem Häufigkeitspapier auch so gut, das sie im Materialienlager der Kunsthochschule in Weißensee entdeckt hat, wo sie lehrt. Alter Restbestand aus der DDR. Die Köpfe sehen aus wie nüchterne Scherenschnitte. Und wenn man weiterguckt in der Ausstellung, die sie an diesem Vormittag noch vorbereitet, dann sieht man Karten, Sternbilder, Schnittmuster, Konstruktionszeichnung. Alles Pläne.

Das ist schon lustig, denn so richtig geordnet ist Nanne Meyer gar nicht. Sie lässt viel auf sich zukommen. Deshalb heißt ihre Schau auch „Nichts als der Moment“. Sie eröffnet anlässlich der Verleihung des Hannah-Höch-Preises (vorherige Preisträger waren im Vorjahr Andreas Slominski und Johannes Grützke im Jahr 2012). Nanne Meyer bekommt die mit 25.000 Euro dotierte Ehrung des Landes Berlin für ihr Lebenswerk, für eine konsequente Haltung. Denn der 61-jährigen geborenen Hamburgerin kommt eine fast singuläre Stellung in der deutschen Kunst zu. Seit den siebziger Jahren widmet sie sich ausschließlich der Zeichnung. Kollegen machen meistens Ausflüge in andere Genres, wenn für sie Zeichnen nicht ohnehin nur Mittel zum Zweck ist.

Was wählt man aus, wenn man sein ganzes Leben lang gezeichnet hat? Schublade um Schublade habe Nanne Meyer geöffnet, erzählt Andreas Schalhorn, wissenschaftlicher Mitarbeiter für moderne und zeitgenössische Kunst am Kupferstichkabinett. Immer neue „Zeichnungsfelder“ haben sich aufgetan. So nennt Nanne Meyer ihre Arbeiten. Keine steht für sich selbst. Aus der einen ergibt sich eine andere, vereint Bestehendes, führt fort. Nanne Meyer folgt der Logik der Zeichnung, der Linie. Am Ende haben die Künstlerin und der Kurator entschieden, sich auf die Berliner Jahre zu beschränken. Vor 20 Jahren hat sie ihre Professur an der Kunsthochschule Weißensee angetreten, seitdem lebt sie in der Stadt. Das Kupferstichkabinett ist im Besitz einer recht typischen Arbeit, es ist eines ihrer Flugbilder.

Auf Flügen hat Nanne Meyer immer einen Zeichenblock dabei

2001 saß Nanne Meyer im Flieger, schaute hinaus auf die Welt und wie sie sich in der Aufsicht in Striche und Raster auflöst. Sie war fasziniert von dem Gedanken, diese Eindrücke ins Zeichnen zu übersetzen. „Man ist ja nicht schnell genug“, sagt sie. Trotzdem wollte sie die Wahrnehmung des Darüberhinwegrauschens in ein Bild bannen. Zu sehen sind nun feine Überlagerungen von Siedlungen, Straßen, Feldern und Bergen. Proportionen verschieben sich, die Zeit schreibt sich ein. Auf Flügen hat Nanne Meyer seitdem immer einen Block dabei. Man kann sich vorstellen, wie sie da auf ihrem Fensterplatz den Block balanciert, in der Enge der Economy Class, und gegen die Geschwindigkeit anzeichnet.

„Man sagt immer, Zeichnen sei ein schnelles Medium“, sagt Nanne Meyer umringt von Leitern und Rahmen, die noch am Boden lehnen. Aber das stimme so auch nicht ganz. „Man muss doch erst durch den Arm durch.“ Die Künstlerin zieht eine Verbindungslinie vom Kopf bis in die Hand, auf ein imaginäres Blatt. Eines ihre Lieblingsvorbilder stammt von Caspar David Friedrich. Ein ganz schütteres Bäumchen sei das, erzählt sie, und unten drunter hat er geschrieben: drei Stunden. „Das finde ich wunderbar!“

Dass sie den Hannah-Höch-Preis gewonnen hat, sieht sie auch als Anerkennung für das Genre. Sogar von einem kleinen Boom kann man sprechen. „Ich kann mich gar nicht retten vor dem Ansturm der Studenten“, sagt die Weißensee-Professorin und Vorreiterin. Woran das liegt? Nach all den Experimenten mit digitaler Kunst hätten viele junge Künstler Sehnsucht nach einer Kunst, die unabhängig von Elektrizität sei, glaubt sie. Für die man die Sinne und den Körper brauche, aber nicht einmal einen Stift. „Ich habe auch schon mit dem Fingernagel gezeichnet.“

Eigentlich arbeitet Nanne Meyer wie eine Kartografin. Lange hat sie sich damit beschäftigt, wie man über die Jahrhunderte geografische Begebenheiten dargestellt hat, das war nicht immer gleich. Um Hügel zu kennzeichnen, hat man früher Schraffuren verwendet, heute sind es Höhenlinien. Beides kommt in Nanne Meyers Zeichnungen vor. Ihr gefällt, dass man nachts im Dunkeln nur die Spuren der Zivilisation sehen kann, beleuchtete Straßen, Fabriken, die mit Flutlicht angestrahlt werden, blinkende Masten. „Genähte Nacht“ heißt eine Arbeit, Schwarz mit weißen Lichterketten, die aussehen wie Stiche. Manchmal bearbeitet sie aber auch historische Karten. Dann übermalt sie die Namen von Ortschaften mit blauen Kreisen oder roten Strichen, so dass die Pläne in ihrer Funktion nutzlos werden, weil keine Orientierung mehr möglich ist.

Es sind Balanceakte zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit. Und immer wieder schimmert Witz durch, etwa wenn sie für ihre Brunnenserie lauter Postkarten mit schlichten Bassins und Pools sammelt und alles drumherum mit grauer Farbe abdeckt. Humor braucht man, sagt die Künstlerin und lacht. „Die Welt ist doch so kompliziert und schwierig.“ Nanne Meyer hat ein so heiteres Gesicht, eine so sympathische Art, dass sie einen gleich für sich gewinnen kann.

Humor wird sie in nächster Zeit noch brauchen. Der Ateliergemeinschaft Mengerzeile in Alt-Treptow, wo sie seit 15 Jahren ein Studio hat, wurde gekündigt. Wohnungen sollen hier entstehen. Nanne Meyer muss sich einen neuen Arbeitsplatz suchen. Aber bisher war sie mit der Vorbereitung ihrer ersten Berliner Retrospektive beschäftigt. Erst später kann sie sich der Suche widmen. Wann? Wohin? Noch keinen Plan.

Kupferstichkabinett, bis 15.2.2015, Di–Fr 10–18 Uhr, Sa/So 11–18 Uhr.

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