100 Grad: Requiem für ein Festival
„100 Grad“: Die freieTheaterszene präsentiert anarchischen Wildwuchs – und quält Pflanzen.
Wenn eine Pflanze in Gebissreiniger getaucht wird, macht sie Geräusche wie eine Heulboje auf einem Gothic-Konzert. Hört man normalerweise natürlich nicht. Man wässert seine Wohnzimmergewächse ja auch nicht mit Corega Tabs, es sei denn, Alzheimer oder so. Aber in der theatralen Versuchsanordnung „Follow the Plant Dying“ des jungen Forscherkollektivs Errorszenarien wird eine Topfpflanze aus der Gattung der Zamioculcas mit hochempfindlichen Mikrofonen beklebt und fachkundig getriezt. Wie das arme Ding quietscht, wenn noch WC-Reiniger ins Wasser gegossen wird! „Dieses zielgerichtete Handeln stellt die Strukturen eines anthropozentrischen Denkens erneut zur Diskussion“, heißt es im 100-Grad-Programmheft. Also: Pflanzen sind auch nur Menschen. Behandelt sie mit Respekt, nicht mit Putzmittel.
Was hier über die Bühne geht, ist ein Requiem. Nicht nur für die Zamioculcas. Sondern für das Vier-Tage-Marathon-Festival des freien Theaters. Die zwölfte Ausgabe, die am Wochenende im HAU, in den Sophiensälen und im Ballhaus Ost zu Ende gegangen ist, war die letzte in der gewohnten Form. Klangvolle Namen der Performancekunst hat dieses 2004 noch in der frühen Lilienthal-Ära erfundene Festival sichtbar gemacht: Patrick Wengenroth, Vegard Vinge, Markus&Markus, etc. Ab 2016 wird die Plattform des Wildwuchses wohl nicht mehr allen Gruppen, Künstlern und Irgendwaskönnern offenstehen, sondern in eine Art Performance Weekend verwandelt. Vielleicht deshalb liegt so ein heiliger, existenzieller Ernst über diesem finalen 100-Grad-Jahrgang.
Wie im Stück „Hände weg von unserer Fabrik!“ des Weber-Herzog-Musiktheaters. Die Gruppe zieht am HAU ein Singspiel über die Besetzung eines Stahlwerks durch wackere Arbeiter auf, nach einem realen Fall in Mailand. Ein fieser Kapitalist macht mit Haifischgrinsen seine Angestellten nieder: „Hoffentlich geht es Ihnen nicht so schlecht wie Ihren Leistungen!“ Und will den Betrieb einstellen. Woraufhin die mutigen Proletarier beschließen: „Wir müssen Löwen werden statt Lämmer.“ Das Ganze ist von so einem glühenden kommunistischen Pathos befeuert, als hielte Ernst Thälmann seine schützende Hand über die Darbietung.
Töte den Jungen in dir und werde erwachsen. Heavy Stoff zum Nachdenken
Oder, noch ein wunderbar ironiefreier Abend: „Neue Männlichkeit – Ein Dating- Seminar“ in den Sophiensälen. Die Performer Stephan Stock und Christopher Kriese (unterwegs für die Gruppe Neue Dringlichkeit) nehmen den Mann als tief verunsichertes Wesen ins Visier, das vor lauter antrainierter Sensibilität das Erobern verlernt hat und bloß noch greinend seine heterosexuelle Paarbeziehung zerredet. Hier gibt es lauter praktische Tipps für die Neudefinition der Männerrolle. Unter anderem: „The boy must die for the man to live“. Also: Töte den Jungen in dir und werd’ mal erwachsen. Oder: bring die Frau dazu, in dich zu investieren. Heavy Stoff zum Nachdenken.
Lebenshilfe war ja stets ein 100-Grad- Markenzeichen. Sie kommt diesmal auch von der „ASMR yourself Agency“. ASMR steht für Autonomous Sensory Meridian Response und wird in Fankreisen als „Orgasmus fürs Gehirn“ beschwärmt. Man setzt sich Kopfhörer auf und schaut Internetvideos von klackernden Murmeln oder gehauchten Zärtlichkeiten, die im Zweifelsfall wohliges Kopfkribbeln auslösen. Auf diesbezügliche Reizempfindlichkeit kann man sich bei der Agency testen lassen, mit Nackenkraulen, Schmatzgeräuschen im Ohr und anderen Triggern. Ein echtes Gänsehauterlebnis. Kriegt man in keinem Stadttheater geboten.
Ob das jetzt alles vorbei ist? Okay, wir haben auf dem 100-Grad-Festival auch schon gelitten und gespottet. Uns gefragt, ob sich die Gruppe da vorne im Studium für angewandte Kulturwissenschaft zusammengefunden hat. Aber das machte auch den Reiz des Wundertüten-Prinzips aus. Jetzt soll das Festival kuratorische Schranken einziehen. Qualitätskontrolle. Die Freie Szene, schreiben die 100-Grad- Organisatoren, habe sich „enorm verändert und entwickelt“. Damit wird die litaneihaft beschrieene Professionalisierung und Internationalisierung gemeint sein, die wir im Zweifelsfall auch schon mitgebetet haben. Im Klartext bedeutet das hier aber: aus einem anarchischen Festival wird ein weiteres Stadtmarketing-Tool.
Die Angst geht um, „freie Szene“ könnte mit Dilettanten verwechselt werden. Also etwa mit der Gruppe Girl to Guerilla, die im Ballhaus Ost den „Reisparteitag“ feiert. Ein nackter Performer hat sich „Hure“ auf die Stirn geschrieben, ein sehr dicker Mann trägt Biene-Maja-Kostüm, es gibt Nazi-Uniformen, reichlich Dosenbier, man schmeißt mit Bifis und Heiner-Müller-Zitaten um sich. Der Wahnsinn. Gut, wenn jetzt Kultursenator Müller käme, um sich mal anzuschauen, was diese freie Szene eigentlich macht, die beharrlich mehr Geld fordert, und er wird von nackten Huren mit Bifis beworfen – da leidet natürlich das Image.
Auf der anderen Seite des Spektrums steht einer wie der Performer Johannes Dullin, dessen depressiv vorgetragene „Albernheitsstudien“ eine Sternstunde des Dadaismus und eine echte Entdeckung sind. Eben auch: typisch 100 Grad. In der freien Szene hat man sich angewöhnt, permanent mit der eigenen Gewinnträchtigkeit zu argumentieren. Auch notgedrungen. Bloß sollte am Ende nicht Schaufensterkunst stehen, über die der Wirtschaftssenat frohlockt.
Patrick Wildermann
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