zum Hauptinhalt
Vegard Vinge bei der Zubereitung eines Tampontees.
© privat

Vegard Vinges 12-Spartenhaus: Ekel ist auch nur ein Gefühl

Das Freaktheater „12-Spartenhaus“ stresst Zuschauer wie Intendanz. Jetzt kam ein Techniker zu Schaden. Aber was soll das eigentlich alles? Ein Selbstversuch im Prater der Berliner Volksbühne

Der Mann muss ein verdammt guter Schauspieler sein. Dabei gehört er gar nicht zum Ensemble. Wie er Sonntagabend auf der Kastanienallee vorm Prater-Eingang steht und Ungläubigen versichert, das Stück sei nun definitiv zu Ende, da komme nichts mehr, und wie er dabei keine Miene verzieht, so als verspüre er weder Erleichterung noch Genugtuung, das ist schon große Kunst.

Der Mann heißt Andreas Speichert und fungiert bei Vegard Vinges aktuellem Ibsen-Exzess „12-Spartenhaus“ als Bühnenmeister. Üblicherweise dauert hier eine Aufführung bis zu elf Stunden, heute ist schon nach anderthalb Schluss, und das hat indirekt auch mit Speichert zu tun.

Beim „12-Spartenhaus“, das Anfang Mai Premiere feierte und diesen Samstag letztmals vor der Sommerpause aufgeführt wird, ist der Norweger Vegard Vinge Regisseur und Hauptdarsteller in einem, aber auch Mastermind, Diktator, Wüterich. Er ist derjenige, der randaliert, mit Fäkalien wirft. Bei einer Aufführung durchschlug Vinge eine Kulissenwand und entleerte durch das Loch den Inhalt eines Feuerlöschers. Dummerweise stand Speichert auf der anderen Seite und bekam Pulver in die Lunge. Er hatte Atemnot, der Arzt schrieb ihn krank, das Theater musste eine Vorstellung absagen, und Intendant Frank Castorf schrieb Vinge einen bösen Brief. „Eine Abmahnung“, sagt Speichert, aber das ist juristisch nicht korrekt, Vinge ist kein Angestellter der Volksbühne. Das Theater nennt es „eine Beanstandung“. Jedenfalls steht im Brief, dass Vinge auf die Gesundheit seiner Mitmenschen achten müsse. Die verkürzte Aufführung – anderthalb Stunden kommen im Vinge-Universum Arbeitsverweigerung gleich – muss man als Trotzreaktion werten.

Immerhin hat sich der Gescholtene längst beim Bühnenmeister entschuldigt. Und Andreas Speichert sagt auch: Tagsüber sei Vinge ein höflicher, ja herzlicher Mensch. Das ändere sich erst, sobald er sich die Maske überstreife. Dann werde er unberechenbar. Wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde, bloß mit dem Unterschied, dass Hyde noch Tabugrenzen kennt.

Man würde Vegard Vinge gern treffen und fragen, ob das denn sein musste mit dem Feuerlöscher. Warum er Castorfs Ordnungsruf nicht akzeptiert. Oder ganz einfach, was um Himmels willen nicht mit ihm stimmt. Geht leider nicht. Vinge gibt keine Interviews, genauso wenig wie seine langjährige Partnerin Ida Müller, die das comichafte Bühnenbild verantwortet. Die beiden haben sich in Berlin an der Hochschule der Künste kennengelernt und gemeinsam ihren Stil entwickelt.

Keine Frage: Vinges Freaktheater ist eine gewaltige Zumutung. Wegen der Schweinereien, vor allem aber wegen der extremen Zerdehnung und Entschleunigung, der penetranten Wiederholung einzelner Sätze und simpelster Körperbewegungen. Im Spartenhaus kann es dem Zuschauer passieren, dass er eine halbe Stunde lang einem Maskenmann dabei zusehen muss, wie der seinen Holzstock, einem Metronom gleich, hin- und herschwingt. In guten Momenten versetzt einen das in Trance. In den meisten Momenten macht es einen schier wahnsinnig. So ist es bei Spartenhaus-Inszenierungen üblich, dass sich jeweils ein gutes Drittel der Zuschauer draußen auf der Kastanienallee aufhält, Frischluft atmet, etwas essen geht oder mit anderen Verwirrten über Sinn und Botschaft der Veranstaltung diskutiert. Ab und zu muss ein Freiwilliger rein, gucken, ob’s nun endlich weitergeht oder ob der Maskenmann noch immer seinen Stock schwingt.

Vegard Vinge: „Kassen-Nazi, mach die Türen auf“

Das Spartenhaus vereint Zuschauer zu Leidensgenossen, ja zu Komplizen: Lasst uns heute etwas Unerhörtes tun! Nämlich dableiben, das alles aushalten!

Erschwerend kommt hinzu, dass der eigentliche Bühnenraum verschlossen bleibt, das Publikum hockt im Foyer auf Holzbänken oder dem Fußboden. Auf drei Leinwände wird projiziert, was in den unzugänglichen Teilen des Praters gerade schrecklich widerliches – oder schrecklich langweiliges – passiert. Nach der Premiere hatten Kritiker Hoffnung, Vinge werde nach und nach Areale des Praters freigeben, irgendwann auch den Bühnenraum. Vinge selbst hat die Hoffnung befeuert, indem er einen Theater-Mitarbeiter anpöbelte: „Kassen-Nazi, mach die Türen auf“. Aber nichts da.

Elf Stunden Vinge sind Horror. Besonders quälen die Momente, in denen man sich fragt, warum man sich das eigentlich antut. Wie erbärmlich das eigene Leben sein muss, dass man sich gegen die reale Welt draußen und für diese Folter entschieden hat. Und wie hypebesessen, ja psychisch instabil man ist, dass man herkam, weil Freunde gesagt hatten, das dürfe man nicht verpassen.

Am größten wird die Selbstverachtung aber nach gefühlten sieben Stunden. Das ist der Moment, in dem einem klar wird, dass man jetzt wirklich, wirklich gern zu Hause im Bett läge, dass aber die Hälfte der Zeit schon rum ist und die doch irgendwie vergeudet wäre, wenn man jetzt einfach abbräche.

Szene aus dem Ibsenexzess "12 Spartenhaus".
Szene aus dem Ibsenexzess "12 Spartenhaus".
© privat

Unter den Erschöpften auf der Kastanienallee wird auch die Theorie diskutiert, dass sich der Saal erst öffne, wenn der erste Zuschauer sich gewaltsam Zugang verschaffe ins Innere des Spartenhauses. Aber wer zum Techniker geht und das vorschlägt, kriegt eine Anekdote aus dem letzten Jahr erzählt, als Vinge das Ibsen-Stück „John Gabriel Borkman“ aufführte: An einem Abend sei ein Zuschauer auf die Bühne geklettert. Vinge hat ihn angepinkelt, danach wurde er des Hauses verwiesen. Der Zuschauer, versteht sich.

Nein, das Publikum soll nicht eingreifen, es soll leiden und erdulden. Wer sich die Mühe macht, wird im Spartenhaus erstaunlich viele Bezüge zu Ibsens „Ein Volksfeind“ finden. Aber im Grunde reicht es, die Rahmenhandlung zu kennen: Die Badeanstalt einer norwegischen Kleinstadt ist verunreinigt. Was stört jetzt – die Verunreinigung oder derjenige, der darüber spricht?

Eine Sprecherin sagt, dass 12-Spartenhaus gehe nach der Sommerpause weiter

In seinem Brief schreibt Frank Castorf auch von einer „stinkenden Masse“, mit der Vinge an mehreren Abenden um sich warf. Wer dabei war, weiß, dass es sein Kot war, vermischt mit was auch immer. Vinge kommentierte seine Einlage mit einem Satz, der so nicht in Ibsens Volksfeind steht, der aber kaum besser passen konnte: „Diese Künstler-Scheiße ist unsere Existenzgrundlage“, quäkte er mit kindlicher Stimme. Genau wegen solcher Schockmomente zieht es die meisten schließlich in den Prater. Der wird doch wohl nicht ...! Der kann doch nicht ernsthaft...! Jetzt hat der tatsächlich ...!

Ja, das Spartenhaus ist eklig. Aber wenn man es genau nimmt, ist Ekel auch bloß ein Gefühl. Man kann damit klarkommen, man überlebt das. Und wenn Theater berühren, verstören, anregen und auch mal ängstigen soll, dann ist das „12-Spartenhaus“ wohl allerfeinstes Theater. Längst wirkt es auch über die Kastanienallee hinaus. An einem Abend, als Vinge mal wieder im Foyer wütete, twitterte ein Besucher, gerade werde das Kassenhäuschen zerlegt. Dies lasen Mitarbeiter der Volksbühne und riefen gleich beunruhigt an, ob das denn wahr sein könne. Der Bühnenmeister hat darüber gelacht. Das war vor der Sache mit dem Feuerlöscher.

Die Maske bleibt auf.
Die Maske bleibt auf.
© privat

Zum Ende seiner verkürzten Sonntags-Vorstellung ließ Vinge die Wörter „Die Kündigung“ an die Wand werfen. Die Sprecherin der Volksbühne sieht das nicht als Abschied. Noch am Donnerstag hieß es, man wolle am Künstler festhalten und das Spartenhaus auch nach der Sommerpause aufführen. Vinge dürfte so viel demonstrative Solidarität als Provokation empfinden. Mal gucken, ob er dafür ein paar Wände einreißt.

Prater, Kastanienallee 7–9, Sa 29.6.,16 Uhr, Eintritt ab 18 Jahren.

Sebastian Leber

Zur Startseite