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Dem Arrest abgetrotzt. Kirill Serebrennikov (rechts) entwickelte die Idee zu seiner „Decamerone“-Inszenierung, während er die Wohnung nicht verlassen durfte. Jetzt probt er im Moskauer Gogol-Center mit deutschen und russischen Schauspielern. Mit dabei: Georgette Dee (links).
© Ira Polyarnaya

Probenbesuch in Moskau: Regie aus der Ferne

Kirill Serebrennikov darf Russland nicht verlassen. Doch für das Deutsche Theater inszeniert er „Decamerone“. Wie geht das?

Das Gogol-Center in Moskau ist ein beliebter Ort. Prominenz kommt hierher. Der frühere Kulturminister Sergej Kapkov und die Tochter des früheren russischen Präsidenten Boris Jelzin machten ihre Aufwartung. Christina Aguilera wurde am Rande ihres Moskaukonzerts im letzten Jahr im Gogol-Center gesichtet, als in dem Kunstkomplex eine Hommage für Russlands Gesangsdiva Alla Pugatschowa stattfand.

Auch jetzt im Februar, beim normalen Spielbetrieb, ist das Haus voll. Taxis fahren vor. Menschen drängen sich im Inneren am nackten Ziegelmauerwerk entlang, um zur Garderobe zu gelangen oder sich am Tresen einen Wein zu holen. Abgeklopftes Mauerwerk, ein Signum des Berlins der 1990er Jahre, ist auch angesagt in Moskaus Kulturszene.

Viele der hippen Galerien befinden sich in ehemaligen Industriebauten. An diese Zigelmauerästhetik knüpft auch das Gogol-Center an. Es ist ein früheres Stadttheater, das für eher verschlafene Programmatik bekannt war, bevor es mit dem Einzug von Kirill Serebrennikov und seiner Truppe von jungen Schauspielern, Musikern, Film- und Videokünstlern nicht nur programmatisch ins 21. Jahrhundert überführt, sondern auch im Inneren entkernt wurde.

Während sich im Erdgeschoss das Publikum einstellt auf die Vorstellung von „Petrov in der Grippe und um ihn herum“, der Bühnenfassung des gleichnamigen Bestseller-Romans von Alexej Salnikov über die absurden Erlebnisse einer gewöhnlichen russischen Familie, ist im Probenraum im ersten Stock der Mann bei der Arbeit, der das Gogol-Center in seiner jetzigen Form geschaffen hat.

Im August 2017 wurde der Regisseur vom Filmset weg verhaftet

Kirill Serebrennikov, schwarzes Shirt, schwarzes Basecap und die Stoppeln eines Mehrwochenbarts im Gesicht, inszeniert mit einem gemischten Ensemble aus Schauspielern des Deutschen Theaters Berlin und des Gogol-Centers das „Decamerone“ nach Giovanni Boccaccio. Ursprünglich hatte er ein ganz anderes Projekt geplant. „Die erste Idee war, dass ich zehn berühmte deutsche Schauspieler finden wollte, Menschen von mehr als 70 oder 80 Jahren. Und ich wollte, dass sie reale Geschichten aus ihrem Leben erzählen. Die jungen Schauspieler sollten dann diese Geschichten spielen“, erinnert er sich in seinem mit Requisiten vollgestopften Büro, in dem auch der Federschmuck eines Indianerhäuptlings prunkt.

„Traurigerweise hatte ich dann keine Gelegenheit, mit realen Menschen zu arbeiten“, umschreibt der 50-Jährige vorsichtig die Situation. Kirill Serebrennikovs Aktionsradius war stark eingeengt. Im August 2017 wurde er während der Dreharbeiten zu dem Musikfilm „Leto“ („Sommer“) über russische Undergroundrocker der 1980er Jahre in Sankt Petersburg verhaftet. Anschließend steckte er 20 Monate in Hausarrest in Moskau. Deutsche Schauspieler zu casten, war da schwer möglich. „Ich entschied mich, das Stück zu Hause zu schreiben und dabei die Geschichten von Boccaccio zu benutzen und in unsere, in moderne Zeiten zu übertragen“, schildert er den Ausweg.

Verhaftung und Hausarrest sind Folge einer Anklage der Staatsanwaltschaft, Serebrennikov und sein Team hätten Fördergelder aus den Jahren 2011 bis 2014 in Höhe von insgesamt 133 Millionen Rubel, knapp zwei Millionen Euro, veruntreut. Die Anwälte der Beschuldigten bezeichneten die Vorwürfe als absurd. Das Gericht ließ mittlerweile auch die ökonomischen Aktivitäten des Theaters untersuchen. Eine Expertenkommission kam zu dem Ergebnis: Mit einer Förderung von insgesamt 214 Millionen Rubel erarbeitete das Theater künstlerische Werke im Wert von mehr als 300 Millionen Rubel. Das Gogol-Center war also wirtschaftlich erfolgreich.

Frühere Projekte wurden behindert, weil sie um Homosexualität kreisen

Wer Russland kennt, fühlt sich an Zensur erinnert – Zensur über den Umweg eines Strafverfahrens. Denn Serebrennikov eckte bereits in früheren Jahren an. Die staatliche Filmförderung für sein Tschaikowski-Projekt wurde zurückgezogen, als bekannt wurde, dass auch die schwule Seite des Komponisten eine Rolle spielen würden. Die Premiere des Balletts „Nurejew“ über den Ballett-Star Rudolf Nurejew wurde verschoben; auch hier erregte die Homosexualität des Künstlers Anstoß. Das Ballett wurde dann doch noch aufgeführt, in Abwesenheit Serebrennikovs, der da schon unter Hausarrest stand. „Nurejew“ wurde von der Kritik gefeiert und der Regisseur mit Russlands höchstem Theaterpreis, der Goldenen Maske, ausgezeichnet. Kurz vor der Preisverleihung im April 2019 kam endlich die Aufhebung des Hausarrests und Serebrennikov konnte den Preis selbst entgegennehmen.

Über all diese Dinge will der Künstler jetzt nicht reden. Das gesamte Theater blockt Anfragen zu dem Thema ab. Zu groß ist offenbar die Angst, mit Aussagen in der Öffentlichkeit zu stehen, die sich ungünstig auf das noch laufende Verfahren auswirken könnten.

Unter Hausarrest blieb Serebrennikov bemerkenswert produktiv. Er fand nicht nur in seiner Hausbibliothek die Inspiration für das „Decamerone“-Projekt mit dem Deutschen Theater. Er inszenierte sogar. Dafür entwickelte das Ensemble die Methode der Fernregie per Video. „Es war natürlich schwierig für ihn wie auch für uns“, blickt die Schauspielerin Yang Ge auf diese Zeit zurück. „Wir machten die Proben. Und er bekam die Videoaufzeichnungen und schaute sie sich die ganze Nacht an. Am Morgen holte der Assistent die Dokumente, in denen stand, was er gut fand und was nicht. Und wir probten und zeichneten erneut auf und schickten es ihm wieder“, beschreibt sie das Prozedere.

Es war eine Arbeit, die alle Beteiligten noch mehr zusammenschweißte. „Wir waren so traurig über seine Situation. Aber er gibt niemals auf, arbeitet immer sehr hart. Selbst dann, als er seine Wohnung nicht verlassen durfte, arbeitete er weiter. Und wenn ich mit ihm arbeite, denke ich: Wenn er nicht aufhört, wie könnte ich dann aufhören?“, erzählt die Schauspielerin, die selbst auch als Filmregisseurin tätig ist und eine ganz eigenständige künstlerische Karriere aufweist. Als Serebrennikov rief, stellte sie sogar eigene Projekte zurück. „Im Theater verdienen wir nicht viel Geld. Die meisten von uns arbeiten auch im Film. Das ist deutlich lukrativer. Aber als Kirill sagte, wir müssen eine neue Show machen, haben wir ein Filmprojekt abgesagt.“

Zu den Berliner Endproben wird er per Skype zugeschaltet

Yang Ge spielt auch bei „Decamerone“ mit. Die Proben hier zeichnen sich ebenfalls durch einen erhöhten Schwierigkeitsgrad aus, allerdings von ganz anderer Art. Denn die Schauspieler aus Deutschland sprechen in den insgesamt zehn Liebes- und Verführungsszenen aus dem Romanzyklus Deutsch und die Kollegen aus Russland Russisch. Für Orientierung sorgt eine Live-Dolmetscherin. Sie überträgt jedes Wort in beide Sprachen. Etwas Ruhe hat sie nur, wenn die, die Englisch beherrschen, in dieser Sprache direkt miteinander kommunizieren. Es ist ein wahres Babel im ersten Stock des Gogol-Centers.

Regisseur Serebrennikov scheint die Situation zu genießen. Er sieht die sprachliche Herausforderung vor allem als eine Chance: „Mir ist es wichtig zu zeigen, dass die Sprache nicht immer ein Problem sein muss. Oft sagen Schauspieler ja: Wie soll das gehen in der anderen Sprache? Werden die Leute mich überhaupt verstehen? Ich möchte dieses Vorurteil beseitigen, diese Angst nehmen, und zeigen, was alles möglich ist. Denn im 21. Jahrhundert haben wir ganz andere kognitive Verfahren und Möglichkeiten, Informationen zu verarbeiten. Ohnehin leben wir in einer visuellen Welt, wir essen gewissermaßen mit den Augen.“

Die ungewöhnliche Produktion hat am 8. März im Deutschen Theater Premiere, in Abwesenheit von Serebrennikov, der bei den Endproben in Berlin live per Skype zugeschaltet sein wird. Moskau verlassen darf er vorerst nicht. Vom 13. bis 15. März wird eine weitere Produktion von ihm im Rahmen des Festivals „FIND“ der Schaubühne zu sehen, „Outside“ behandelt das Leben des schwulen chinesischen Kultfotografen Ren Hang, auch Yang Ge spielt darin eine der Rollen. Die Moskauer Premiere von „Decamerone“ ist für den Juni geplant. Wenn alles gut geht, ist bis dahin auch das Gerichtsverfahren abgeschlossen.

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