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Ein Leuchten in der O-Straße. Das SO 36, wie es 2009 in die Nacht strahlt.
© Dennis Gundlach/ddp

Das SO 36 in Berlin-Kreuzberg: Ratten-Jenny, Dosenbier und Respekt

Das Kreuzberger SO 36 ist eine Legende. Jetzt hat der Club auch eine eigene Chronik: "SO 36 - 1978 bis heute". Die Veröffentlichung wird am Montag mit einer großen Party gefeiert. Hier Auszüge aus dem Buch.

Im Jahr 1978 verwandelte sich das ehemalige Kino unter dem Namen S.O.36, ab 1982 kurz SO36, in einen Veranstaltungsort für Punk, Kunst und experimentelle Musik. Das Einzigartige am SO36 ist, dass es bis heute geschafft hat, sich lokal zu verwurzeln, ohne dabei Provinz zu werden. Im Gegenteil: Erst die Verwurzelung stärkte sein Gespür für aktuelle globale soziale und künstlerische Entwicklungen.

Zusätzlich entstand aus den Intensitäten der sich hier einfindenden multiplen Diasporen so etwas wie ein Familiennetz. Dieses gründet sich aber weniger auf klassische Traditionen als auf Freundschaften – ganz im Sinne von Michel Foucault. Das SO36 ist mit einem Wort: glokal.

Mit einem Mauerbaufestival öffnete das S.O.36. am 13. August 1978 seine Türen. Auf einem großen Tisch stand ein Kuchen in der Gestalt und dem Verlauf der Berliner Mauer. Dazu spielten Bands wie S.Y.P.H., Mittagspause und DIN-A-Testbild. Das Konzept stammte von den Gründern und Betreibern Andy Rohé, Achim Schächtele und Klaus Brennecke. Mit dem Mauerbaufestival setzten diese eine Tradition ähnlicher ironisch-subversiver Aktionen zum Thema fort. Begonnen hatte das 1964 mit der Forderung von Joseph Beuys, die Mauer zu erhöhen: „um 5 cm (bessere Proportion!)“. Beuys’ Aktion rief große Empörung bei den westdeutschen Politikern hervor und führte fast zu seiner Entlassung als Kunstprofessor. (...)

Für die Initiatoren erwies sich ihr Projekt als finanzielles Desaster. Bereits ein Jahr nach Eröffnung übernahm der Künstler Martin Kippenberger das Lokal. Er stammte aus einer wohlhabenden Familie und verfügte offenbar über genügend Cash. So konnte er neueste New Yorker No-Wave-Musiker einladen und das mit Ideen moderner, performativer Kunst kombinieren. „This man is playing on Luxus“, druckte der Künstler auf Plakate. Dass Kippenberger sich mit Anzug und Krawatte kleidete, weckte zuweilen großes Misstrauen und provozierte erwartungsgemäß. So etwas wagte damals im linksalternativ dominierten Umfeld jedenfalls nur der spätere Grünenpolitiker Otto Schily. (...)

Der neue Pächter schubste irgendwann die Punkerin Jenny Schmidt alias „Ratten-Jenny“ mit dem Spruch „Dich wollen wir hier nicht!“ aus ihrem Stammlokal SO36. Sie stürzte und ihr Bierglas zerbrach in der blutenden Hand. Blut tropfte auf den Boden. Mit dem übrig gebliebenen Rest erwiderte sie die Attacke. (...) Wolfgang Müller (Künstler und Sänger der Tödlichen Doris)

Ich betrat das SO36 Ende der Siebzigerjahre zum ersten Mal. Irgendein Typ hatte mich im Auto von Hamburg aus mitgenommen und mir steckte noch die DDR-Transitstrecke in den Knochen. Das SO war damals nicht mehr als ein kahler großer weißer Raum mit heller Neonbeleuchtung, einem Tresen und ziemlich mieser Akustik. Soweit ich weiß, war dort vorher ein Supermarkt untergebracht. Die genialen Wire spielten ihre 1,5-Minuten-Punksongs. So etwas hatte ich noch nicht gesehen, und das Beste war: Es gefiel nicht jedem. Ich trank ein Dosenbier und war glücklich. Ich habe in der Zeit danach bis heute zigmal mit Abwärts auf der Bühne des SO gestanden, so oft wie in keinem anderen Laden. Das hat schon was sehr Persönliches. Frank Z. (Sänger und Gitarrist von Abwärts)

Das beste Konzert für mich war das der Dead Kennedys. Nachdem Kippenberger und Andy aufhörten, haben Michael Schäumer und Michael Voigt das Merhaba SO36 angemietet und verschiedene Konzerte organisiert. Natürlich war das SO36 für meine Band Malaria! die Heimat. Und ohne Ratten-Jenny ging nichts. Ich erinnere mich, wie die Punks die Bühne stürmen und uns runterholen wollten, als Jenny sich schützend vor uns postierte und sagte: „Lasst die Mädels in Ruhe – die sind in Ordnung!“Bettina Köster (Sängerin, Produzentin und Saxofonistin u. a. bei Mania D, Einstürzende Neubauten, Malaria!)

Meine Erinnerung an das SO36 ist die an eine große und sehr kalte Halle. Ziemlich funktional, als Veranstaltungsraum aber ganz gut. Die Show war echt heftig und die Minutemen wie immer großartig. Schon beim dritten Stück unseres Sets traf mich eine ungeöffnete Bierdose genau an der Stirn. Guter Wurf! Ich hab mir einen Mikrofonständer geschnappt, den Typen aufgefordert, nach vorn zu kommen, um ihn umgehend zu erschlagen. Er rannte raus.

Der Rest des Gigs bestand aus reichlich Schweiß und Rauch. An vieles in dieser Nacht kann ich mich nicht mehr erinnern, außer dass wir super spielten, und als gegen Ende die PA ausfiel, machten wir den Song TV Party, das Publikum und wir abwechselnd hin- und herschreiend. Die Connection mit den Leuten im Publikum muss also ziemlich gut gewesen sein. Und ich erinnere mich daran, dass wir nach dem Auftritt etwas Warmes zu essen bekamen, fast wie ein Wunder, und dass wir in eiskalten Zimmern übernachteten. Die Betten mussten wir uns teilen. Und heißes Wasser gab’s auch nicht. Henry Rollins (Sänger von Black Flag)

Kiez-Glamour. Salon Oriental Schwarzwaldklinik mit Funda Menthol, Fatma Souad und anderen (v. l.).
Kiez-Glamour. Salon Oriental Schwarzwaldklinik mit Funda Menthol, Fatma Souad und anderen (v. l.).
© Annette Ahrends/SO 36

Mein erstes Mal im SO36, da hab ich’s nicht mal in die Halle geschafft, weil wir auf Pille im Flur hängen geblieben sind. Ein Typ stand vor uns, hat Gitarre gespielt und dazu rumgeschrien. Warum auch immer. Das war 1985. Alice (Wirtin vom Franken)

Liebe Leserinnen und Leser, mein Name ist Riza Cörtlen. Sie kennen mich sicher noch als Kreuzberger Bezirksverordneten der KPD/RZ oder jetzt, ganz aktuell, als Landesvorsitzenden der Partei Die PARTEI. Auf vielfachen Wunsch der SO36-Wahrheitskommission muss ich ein Geständnis ablegen, das viele von Ihnen schockieren wird. Es handelt sich um eine Begebenheit aus dem Jahr 1986 oder 1987, so genau weiß ich es auch nicht mehr. Ich war jung …

Die Räume des SO36 hatten sich damals in eine Art yuppieeske Kunstgalerie mit schickem Holzfußboden verwandelt. Ich war entsetzt! Das war nicht mehr das SO36, dass ich so liebte, seit ich im Dezember 1982 das Dead-Kennedys-Konzert versäumt hatte. Mit zwei Gefährten machte ich mich daran, diesen Schandfleck in einen Haufen glimmender Asche zu verwandeln. Wir waren in einem Transporter unterwegs und hatten auf der Ladefläche unter einem Haufen Entrümpelungsgut einen Kanister mit Benzin-Öl-Gemisch. Unser Plan war so einfach wie genial: Wir fahren dahin, gießen das Gemisch irgendwohin, vielleicht aufs Dach und zünden den Spaß an.

Dummerweise war Kreuzberg an diesem Tag von Polizisten in Zivil durchsetzt, da wohl eine Veranstaltung des IWF in Berlin stattfand. Wir wurden also angehalten, da wir uns mit dem Transporter „auffällig“ verhielten. Die Polizisten durchsuchten unseren vermüllten Laderaum und fanden: nichts. O. k., sie haben nicht richtig gesucht, möglicherweise wollten sie auch gar nicht so genau im Müll wühlen. Dummerweise bestand für einen meiner Komplizen ein Haftbefehl, und so wurde er vom Fleck weg festgenommen. Daraufhin ließen wir unseren perfiden Plan fallen, und Kreuzberg kann uns danken, dass das SO36 noch steht. Mittlerweile ist das wieder eine Institution von Weltruf, die Sache ist verjährt und ich bin etwas älter geworden. Wenn die Sache geklappt hätte, würden Sie hier natürlich nichts davon lesen, aber es kam ja alles ganz anders. Also Schwamm drüber und auf die nächsten 36. Riza A. Cörtlen (M. Landesvorsitzender der Partei „Die PARTEI“, 2. stellv. Vorsitzender der KPD / RZ i. R.)

Ich erinnere mich noch genau an die ersten „Gayhane“-Partys im SO36. Zu dieser Zeit war der Andrang noch nicht so groß und „Gayhane“ war noch etwas Neues für uns alle. Eine ständig wechselnde Raumdekoration euphorisierte uns immer wieder aufs Neue. Wir räkelten uns auf mit Teppichen und Kissen ausgelegten Podesten und genossen diesen, unseren Raum.

„Gayhane“ war immer für Lesben, Transgender, Schwule und deren Freundinnen und Freunde konzipiert. Wir freuten uns über die ersten Grüppchen von türkischen Mädchen und Frauen, die unseren Raum ebenfalls als einen Freiraum für sich entdeckten – fernab von den üblichen türkischen Diskotheken und der damit verbundenen stumpfen Anmache von Heteromachos, die bei Ablehnung zu Sittenwächtern zu mutieren imstande sind. Das war eine Zeit, in der die Freunde dieser Mädchen und Frauen (die niemals auch nur einen Fuß in einen schwulen Laden gesetzt hätten) lediglich misstrauisch und naserümpfend vor dem SO36 standen und auf ihre höchst amüsierten Freundinnen warteten, um diese abzuholen.

Es sollte jedoch nicht lang dauern und ebendiese jungen Männer kamen zuhauf in unser Haus. So gab es etliche Versuche von nachbarschaftlichen Kiezmackern, den Raum zu vereinnahmen und dort ihre männlichkeitswahngeprägten Gesetze der Straße und Heime mit Fäusten geltend zu machen. Die sogenannten Herren der Schöpfung wollten auch hier bestimmen, wer sich wann, wo, wie zu bewegen und auszusehen hat – abhängig von zeit- und ortsüblichen Moralvorstellungen …

Wir sorgten uns um die Gäste, für die „Gayhane“ ein freier – ein schützender – Raum sein sollte, und machten uns Sorgen, dass diese sich nicht mehr wohlfühlen und fernbleiben könnten. Um dieser Situation spielerisch entgegenzuwirken, entwickelten wir die Idee, bei einer Party Buttons am Einlass zu verteilen – mit dem Aufdruck „ben ibneyim“ (ich bin eine Schwuchtel) und „ben lezoyum“ (ich bin eine Lesbe), die jede/-r unserer Gäste am Abend über sichtbar tragen sollte. Gäste, die das nicht taten, mussten am Tresen 1,- DM mehr pro Getränk bezahlen. Dieser Versuch, unser Selbstverständnis klarzumachen, wurde ignoriert. Weitere Aufrufe und Erklärungen folgten – wir mussten immer wieder klarstellen, dass es sich bei „Gayhane“ um einen lesbisch-schwulen Raum handelt und dass dort unsere Spielregeln gelten. (...)

Nach vielen Auseinandersetzungen an der „Gayhane“-Tür und viel Kampf (im wahrsten Sinne des Wortes) ist es uns gelungen, solches Verhalten weitgehend zu unterbinden und uns weiterhin auf unsere eigenen Regeln zu konzentrieren, die nicht einfacher sein könnten: R-E-S-P-E-C-T. Fatma Souad (seit 1997 im SO36, Gründerin des Salon Oriental im Schau- und Aktionsraum „Unart“)

„SO 36 – 1978 bis heute.“ Hrsg. v. Sub Opus 36 e. V., Ventil Verlag, 463 S., 36 €. Release Party: 28.3., ab 16 Uhr im SO36, Oranienstr. 190, Eintritt frei

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