Natascha Wodins "Sie kam aus Mariupol": Ratlos im Unrat
Familiengeschichte als Jahrhundertpanorama: Natascha Wodin und ihr außerordentliches Buch „Sie kam aus Mariupol“ über das Schicksal der Zwangsarbeiter im Dritten Reich.
Unglück, Zerrissenheit zwischen den Kulturen, Ortlosigkeit, Fremde – es sind dunkle Motive, die Natascha Wodins autobiografisch grundierte Werke bestimmen. In „Nachtgeschwister“ hat die 1945 als Kind ukrainischer Zwangsarbeiter in Fürth geborene Autorin ihr Zusammenleben mit dem genialischen, absturzgefährdeten Schriftsteller Wolfgang Hilbig beschrieben. Ihr neues und bisher ambitioniertestes Buch, nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse, steigt noch tiefer in die Schächte des Leidens. „Sie kam aus Mariupol“ ist die faszinierende Rekonstruktion der Familiengeschichte der Autorin, von der diese die längste Zeit ihres Lebens selbst nichts wusste. Bis sie vor ein paar Jahren mit Recherchen über ihre Mutter begann.
Im Internet knüpft Wodin Kontakt zu einem russischen Hobbygenealogen, der die Suche nach Vermissten, nach abgerissenen biografischen Linien und vom Weltbürgerkrieg untergepflügten Stammbäumen zu seiner Lebensaufgabe gemacht hat. Plötzlich drängen die Familienangehörigen mit ihren Geschichten nur so heran. Die Frau, die einst als Kind „slawischer Untermenschen“ davon träumte, einer reichen russischen Fürstenfamilie zu entstammen, bekommt nun eine Herkunft aus der russisch-ukrainischen Oberschicht der Zarenzeit untergeschoben: adlige Grundbesitzer, Schiffseigner, erfolgreiche Geschäftsleute, Intellektuelle, Wissenschaftler, ein bekannter Opernsänger. Tiefe Risse gingen schon vor 1917 durch diese Familie: Der Großvater mütterlicherseits, ein Jurist, war ein „Bolschewik der ersten Stunde“, der zu 20 Jahren Verbannung verurteilt wurde.
Zum Bürgerkrieg kam der Hunger-Horror
Die Schriftstellerin liest die Dokumente und staunt. Ist das alles ein Spuk? Will sie jemand mit blauem Blut ködern, um dann – gegen Vorkasse – mit weiteren „Informationen“ herauszurücken? Die Familiengeschichten sind aber auch eine Belastung. Kaum einer der unverhofften Verwandten ist eines natürlichen Todes gestorben; der Enkel der Schwester der Mutter teilt Wodin irritierend emotionslos mit, dass er seine Mutter umgebracht und Jahre in der Psychiatrie zugebracht habe. Bald will die Autorin nichts mehr hören von all diesen „russischen“ Dramen, all den „finsteren, haltlosen Liebes-, Hass- und Wahnsinnsgeschichten“.
Aber natürlich forscht sie süchtig weiter. Welche Verheerungen der Bürgerkrieg nach 1917 mit sich gebracht hat, hat man selten so nachfühlbar erzählt bekommen wie im zweiten Teil dieses Buches. Der Klassenhass wütet in Mariupol, es wird denunziert und gemordet, die Roten und Weißen wechseln sich ab in der Zerstörung der Stadt. Haus und Besitz der Familie werden geplündert. In dieses Inferno wird die Mutter 1920 hineingeboren und kommt in den 36 Jahren ihres Lebens kaum noch aus ihm hinaus. Zum Bürgerkrieg kommt der Hunger-Horror. Erst werden Krähen, Katzen und Hunde gegessen, dann auch Kinder.
Ein Jahrzehnt später wiederholen sich diese Szenen millionenfach in den apokalyptischen Landschaften des Holomodors. Unterdessen arbeitet die Terrormaschine Stalins auf Hochtouren. Lidia, die 1911 geborene Schwester der Mutter, hat sich als Studentin einer konspirativen Gruppe angeschlossen; sie wird verhaftet und 1933 in ein Straflager am Weißmeerkanal deportiert. Diese kühne junge Frau wird zur beeindruckendsten Gestalt des Buches. Auf einem Schrank in Sibirien entdeckt ein entfernter Verwandter ihre Tagebücher. Diese Aufzeichnungen macht Wodin zur Grundlage einer Lebenserzählung, die man mit angehaltenem Atem liest. Lidia wird im Lager als Lehrerin für jugendliche Schwerstkriminelle eingesetzt – sie bekommt es mit dem Bodensatz der sowjetischen Verwahrlosung zu tun. Unterricht wird normalerweise nur mit Wachposten abgehalten. Die zierliche Lehrerin aber entwickelt ganz eigene Methoden, die pubertären Mörder handzahm zu machen.
Das Schicksal der Zwangsarbeiter bisher fast ohne literarisches Echo
Nach diesen romanhaft erzählten Passagen schlägt der dritte Teil einen historisch-dokumentarischen Ton an. Nun geht es um Annäherungen an das Schicksal der Eltern als Zwangsarbeiter. Deren Weg führte über Odessa und Brailu nach Leipzig, in ein Nebenlager Buchenwalds. Sie schuften in einer Rüstungsschmiede des Flick-Konzerns. Während die Hölle der Gulags immer wieder eindringlich beschrieben wurde, während erst recht die Bücher über den Holocaust, so Wodin, „Bibliotheken füllen“, ist das Schicksal der 30 Millionen Menschen, die in die Mühlen des NS-Zwangsarbeiterimperiums gerieten, bisher fast ohne literarisches Echo geblieben.
Dabei hatte jeder deutsche Provinzort seine Zwangsarbeiterlager: 30 000 waren es 1944 im Reichsgebiet. Anfangs wurden die Osteuropäer noch mit zumeist falschen Verheißungen angeworben, im Kriegsverlauf waren es dann immer mehr Verschleppte und Deportierte: „Ganze Güterzüge, vollgestopft mit ukrainischen Teenagern, rollen täglich ins Deutsche Reich.“ Unter Stalin galten diese Menschen als Kollaborateure und Verräter; nach dem Krieg gerieten deshalb viele Rückkehrer vom deutschen direkt in den sowjetischen Gulag. Um nicht „repatriiert“ zu werden von den Alliierten, fliehen Wodins Eltern, kurz bevor Sachsen von der Roten Armee besetzt wird, in die Gegend von Nürnberg.
Wechsel zum autobiografischen Erzählen
Ein Fabrikbesitzer lässt sie mehrere Jahre in einem Schuppen auf seinem Firmengelände hausen. Dort, zwischen rostendem Metall und lärmenden Güterzügen, ohne Strom und fließendes Wasser, fühlen sie sich geborgener als in den Lagern für Displaced Persons, die sie dann allerdings doch noch kennenlernen: als laute, streitsüchtige, Kriminalität ausbrütende Zwangsgemeinschaften von Zusammengepferchten aus vielen Ländern Osteuropas, darunter viele traumatisiert und krank durch die Zwangsarbeit. In diesem vierten Teil des Buches, in dem ihre eigenen Kindheitserinnerungen zu greifen beginnen, wechselt Wodin zu einem autobiografischen Erzählen, das zum Anrührendsten gehört, was man bisher über das Elend der Displaced Persons gelesen hat. Sie wächst auf im Gefühl, „dass ich zu einer Art Menschenunrat gehörte, der vom Krieg übriggeblieben war“.
Man muss Geduld haben mit diesem außerordentlichen Werk. Die ersten 100 Seiten wirken nicht immer überzeugend in ihrer Mitteilsamkeit über die Internet-Suche. Sie erscheinen aber legitimiert, wenn man am Ende zu würdigen weiß, wie hier das Private ins Historische hinübergespielt und ein großer Lebens- und Geschichtsstoff aus dem Vergessen geholt wird. Und wie es Wodin gelingt, die verschiedenen Tonlagen von Recherche, Erzählung, Memoire und Dokumentation zu verbinden. Die Sprache, an der zunächst ein wenig das Verplauderte und einige Floskeln stören („es fiel mir wie Schuppen von den Augen“), erreicht später große Dichte und lakonische Wucht. Zu den literarischen Qualitäten gehört aber vor allem die Präsenz, die neben vielen scharf umrissenen Nebengestalten die Mutter und ihre Schwester Lidia gewinnen. Sie haben sich im Übrigen nie wiedergesehen. Die Schwester starb 2001; die schwer depressive Mutter verließ 1956 wortlos die Wohnung und ertränkte sich in der Regnitz.
Natascha Wodin: Sie kam aus Mariupol. Rowohlt, Reinbek 2017. 366 S., 19, 95 €.