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Rauch nach einer Explosion in Gaza: Der jüngste Konflikt um den Gazastreifen begann vor drei Wochen.
© Reuters

Konflikt in Nahost: "Rasenmähen" in Gaza

Zwischen den Lügen der Hamas und Benjamin Netanjahus Halbwahrheiten: Israelis und Palästinenser sind in einen fast ausweglosen Krieg verstrickt.

Bernard Avishai, 1949 in Montreal geboren, kam während des Sechstagekriegs 1967 als Freiwilliger in einem Kibbuz zum ersten Mal nach Israel, wo er seit 1972 lebt. Er ist außerplanmäßiger Professor für Wirtschaft an der Hebrew University in Jerusalem und Professor für Regierungslehre am Dartmouth College in New Hampshire. Mit „The Hebrew Republic“ (Harcourt) veröffentlichte er 2008 ein aufsehenerregendes Plädoyer für ein säkulares und demokratisches Israel, dessen Friedensprozess von seinem globalen wirtschaftlichen Engagement angetrieben wird. Zuletzt schrieb er mit „Promiscuous“ (Yale University Press) ein Buch über seinen Freund Philip Roth.

Wir glauben vielleicht, die Situation zu kennen, doch wir kennen sie nicht. Denn die Bilder der Eskalation sind nur scheinbar die gleichen: Rauchgasspuren, die sich am Himmel abzeichnen; Gaza-Bewohner, die sich verzweifelt durch Schutt wühlen; zum reinen Beobachten verurteilte Israelis, die vor dem Fernseher kleben, fasziniert von Militärs, die in ihrem kalten Sachverstand keine Miene verziehen, denen sie aber vermutlich ihr Leben verdanken.

Auch die sich im Kreis drehenden Ultimaten sind die gleichen, ebenso wie die trostlosen Aufrechnungen: Wir hören auf, euch zu bombardieren, wenn ihr aufhört, auf uns zu feuern, wir hören auf, auf euch zu feuern, wenn ihr aufhört, uns zu belagern, wir hören auf, euch zu belagern, wenn ihr auf eure Geschosse verzichtet, wir können darauf nicht verzichten, solange ihr uns besetzt habt und die Mittel habt, uns zu bombardieren.

Die jeweils jüngsten Kränkungen lassen auf beiden Seiten die älteren verblassen: drei per Anhalter fahrende Israelis entführt, zwei protestierende palästinensische Jugendliche 14 Tage zuvor erschossen, der Rachemord einer Gruppe von israelischen Fanatikern – die ganze Vendetta lässt sich bis zur Balfour-Deklaration von 1917 zurückverfolgen.

Die große Lüge der Hamas

Selbst die kurze Zäsur vor der Bodeninvasion erschien mehr als vertraut. Auf Drängen von Amerikas Außenminister John Kerry hatte die israelische Regierung angekündigt, dass sie die Bedingungen des ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah al Sisi für eine Waffenruhe akzeptieren werde. Das wiederum ähnelte den Bedingungen, die Präsident Mohammed Mursi 2012 gestellt hatte und die Israel auf Drängen der damaligen Außenministerin Hillary Clinton angenommen hatte.

Vertraut sind zu guter Letzt das Posieren und die Doppelzüngigkeit: die Große Lüge der Hamas und im Gegenzug Benjamin Netanjahus Halbwahrheiten. In der Tageszeitung „Haaretz“ erklärte ein ranghoher Hamas-Funktionär neulich: „Als Israel gegen unser Volk zu arbeiten begann, entschieden einige, dass es an der Zeit zu handeln sei, um zu zeigen, dass wir ein Volk und eine Nation sind, die auch unser Volk im Westjordanland zu verteidigen hat.“ Als ob die Hamas ihr Volk dadurch verteidigen würde, dass sie entsetzlich fotogene Angriffe auf die Bewohner von Gaza provoziert. Als ob das Abfeuern von iranischen, durch die Sinai-Tunnel geschleusten Raketen nicht jene israelische Belagerung rechtfertigen könnte, die die Hamas zu durchbrechen versucht. Als hätte die Hamas nicht ein eigenes Besatzungsregime befestigt, das Gaza in einen Albtraum gestürzt hat, in dem fast 90 Prozent der Erwachsenen in Armut leben.

"Rasen mähen" oder die Bombardierungen Gazas

„Die Unterschiede sind einfach“, sagt Netanjahu. „Wir entwickeln Verteidigungssysteme gegen Raketen, um unsere Zivilisten zu schützen, und sie benutzen ihre Zivilisten, um ihre Raketen zu schützen.“ Das stimmt natürlich, aber es stimmt auch, dass die israelische Regierung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wusste, dass die entführten Teenager tot waren, als sie, in einem angeblich verzweifelten Rettungsversuch, eine Razzia durchführte, an deren Ende Hunderte von Hamas-Unterstützern ins Gefängnis geworfen wurden. Einleuchtender ist, dass die Regierung die Gelegenheit nutzen wollte, die Hamas als politische Kraft zu zerschlagen. Netanjahu und seine Militärtaktiker betrachten alle Wohnungen von Hamas-Funktionären oder Kämpfern ganz unverblümt als Teil der Hamas-„Infrastruktur“.

Diese Wohnungen alle paar Jahre wieder zu bombardieren – „den Rasen zu mähen“, wie es der Befehlshaber einer früheren Gaza-Operation ausdrückte – dies demonstriert, dass Israel Hunderte zufälliger Zivilopfer in Kauf nimmt, mit denen sie wiederum die Hamas diskreditieren will. Wer das nicht für ein Kriegsverbrechen hält, möge darüber mit einem palästinensischen Freund sprechen.

Alles angesichts dieser Gewalt erscheint vertraut, doch der entscheidende Unterschied liegt darin, dass es schwerer als je zuvor ist, sich ein Ende auszumalen. Der frühere israelische Premier Ehud Olmert sagte mir einmal, dass er 2008 die Militäroperation in Gaza zum Teil begonnen habe, um Mahmud Abbas, den Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörden, zu stärken: Mit ihm bewegte er sich auf Verhandlungen über eine Zwei-Staaten-Lösung zu. Aber ein militärischer Verlust der Hamas ist für Abbas kein politischer Gewinn – nicht seit der von Kerry angeführte Friedensprozess „ausgesetzt“ wurde. Abbas unternahm einen allerletzten Versuch, die seit Mursis Sturz erschöpfte Hamas auszumanövrieren, indem er sie zwang, eine Einheitsregierung von Technokraten zu dulden. Nun droht die Hamas schlicht durch ihr Ausharren, die nationale Führung von Abbas wieder zu übernehmen.

53 Prozent der Israelis lehnen Waffenruhe ab

Mit der rechten Seite seines Herzens mag Netanjahu insgeheim die Diskreditierung des Mannes begrüßen, dessen Vorstellungen von einem Palästinenserstaat umgekehrt das Siedlerprojekt und die Konsolidierung eines Großisraels bedrohen. Wenig überraschend erklärte Netanjahu, dass Hamas-Geschosse der Beweis dafür seien, dass Israel die Kontrolle des Westjordanlands niemals aufgeben dürfe, obwohl Abbas eine Kooperation in Sicherheitsfragen angeboten hatte: Sie hätte die dortige Aufstellung von Raketen so gut wie unmöglich gemacht.

Doch eine Umfrage des israelischen Fernsehsenders Channel Two zeigt, dass 53 Prozent der Israelis eine Waffenruhe ablehnen. Es war Avigdor Lieberman, Netanjahus Außenminister, der die zynische Forderung nach einer Invasion erhob, um die Hamas vollständig zu Fall zu bringen. Er übernimmt damit den Part, den Netanjahu hatte, als Olmert noch den Ton angab. Weil so vieles auf tragische Weise vertraut ist, werden beide Seiten in einen sich immer weiter aufschaukelnden Krieg hineingezogen. Für die Hamas heißt es: kämpfen oder untergehen. Und für Netanjahu kann man nur hoffen, dass er erkennt, dass Israels Problem nicht mehr nur Ban Ki-moon und CNN sind.

Auch im Westjordanland könnte die Gewalt ausbrechen

Ausruhen nach der Flucht. Männer aus Beit Hanun in einer von der UN als Unterstand betriebenen Mädchenschule in Jabalia am 23. Juli.
Ausruhen nach der Flucht. Männer aus Beit Hanun in einer von der UN als Unterstand betriebenen Mädchenschule in Jabalia am 23. Juli.
© AFP/Marco Olngari

Seit 2012 ist es auf den Straßen des Westjordanlands sehr viel unruhiger geworden; eine neue Generation, die der Zweistaatenlössung gegenüber so misstrauisch ist wie die israelische Rechte, ist erwachsen geworden. Das geteilte Jerusalem erlebt auf beiden Seiten die Gewalt des Pöbels. Israel kann nicht Zivilisten bombardieren und erwarten, dass Studenten in Hebron und Ramallah ihrer Wut allein auf Facebook Luft machen.

Bassem Khoury, ein palästinensischer Unternehmer und früherer Wirtschaftsminister, schrieb mir, dass der Druck auf Abbas, das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs zu unterzeichnen, ins Unermessliche gewachsen sei. Seine Unterschrift würde auch die israelische Führung zwingen, internationalen Sanktionen ins Auge zu sehen. Wo immer Abbas hingehe, schreibt Khoury, „hört man unter den Verdrossenen, besonders den Jungen, den Ruf: ,Unterschreib oder geh!‘“

Wenn die Dinge im Westjordanland explodieren, könnte dies auch in Israels arabischen Städten geschehen, so, wie sie es in für gewöhnlich ruhigen Orte wie Umm al Fahm und Tira gerade taten. Mangels eines glaubwürdigen Friedensprozesses, dem Netanjahu zuvorgekommen ist, wird die Folge des jetzigen Krieges die Konsolidierung eines jüdischen Staates sein, in dem die arabische Minderheit aufhört, einen Platz für sich zu sehen. Und wie lange wird sich die Hisbollah aus dem Getümmel heraushalten? Schon zwei Raketen wurden aus dem Libanon abgeschossen. Die israelische Luftwaffe bombardierte die syrischen Golanhöhen.

Eine andere ernsthafte Gefahr ist Jordanien. Der Staatsapparat – Armee, Polizei, Lehrer, Bürokraten – wird von Mitgliedern beduinischer Clans beherrscht, die sich gegenüber dem haschemitischen König Abdullah loyal verhalten. Ihre Zahl liegt bei weit über zwei Millionen.

Friede ist nicht das gleiche wie Ruhe, die durch vorübergehende Einschüchterung erkauft ist

Jordanien ist einen Sozialkontrakt mit einer Zivilgesellschaft eingegangen, die von rund drei Millionen Palästinensern dominiert wird, von denen 80 Prozent im geschäftigen Amman leben. Sie umfasst eine wohlhabende Bourgeoisie, aber auch zwei Millionen Menschen, die in heruntergekommenen Behausungen rund um die Stadt leben, wo sich islamistische Ideen festgesetzt haben.

Es gibt also einen neuen islamistischen Staat an Jordaniens durchlässiger Ostgrenze mit einer im Aufkommen begriffenen islamistischen Bewegung im Inneren. Wenn Netanjahu glaubt, er könne einen neuen palästinensischen Aufstand unterdrücken, ohne König Abdullah gleichzeitig zu zwingen, damit Jordaniens 1994 noch unter Itzhak Rabin unterzeichneten Friedensvertrag mit Israel zu brechen, dann täuscht er sich.

Was die Obama-Regierung offenbar nicht begreifen will, ist die Tatsache, dass sich der Friedensprozess nicht einfach unterbrechen lässt. Zu sagen, dass sich die Konfliktparteien um den Frieden stärker bemühen müssen als Amerika, heißt, sie zu Führungsrollen zu verdammen, in denen sie kurzfristig von den Auseinandersetzungen profitieren, es dann aber den Amerikanern und dem Rest der Welt überlassen, mit einer unerträglichen Zukunft zurechtzukommen.

Kerry muss auf Waffenstillstand bestehen

Obama bekräftigte gerade erst wieder, dass der Status quo untragbar sei. Aber was will er daran ändern, außer Kerry als Vermittler anzubieten? Kerry muss auf einem Waffenstillstand bestehen, keine Frage, aber wenn er einen durchsetzt, muss er die Gelegenheit nutzen, endlich einen amerikanischen Plan für einen größeren Frieden zu verkünden.

Ein solcher Plan, den alle Weltmächte unterstützen, könnte zumindest zeitweise Abbas’ Führung wettmachen, indem er – was Obama einen „Horizont“ genannt hat – jungen Palästinensern Hoffnung gibt, denen, wenn sie auf Gaza und nicht nur Gaza blicken, apokalyptische Gedanken kommen. Netanjahu sagt, er werde die Operation stoppen, wenn er sich sicher sei, dass „Ruhe“ herrscht. Aber es ist moralisch unverantwortlich, zu glauben, Frieden sei das Gleiche wie eine Ruhe, die durch vorübergehende Einschüchterung erkauft wird.

Aus dem Englischen von Gregor Dotzauer

Bernard Avishai

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