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Kurt Russell, Jennifer Jason Leigh und Bruce Dern in "The Hateful 8".
© Universumfilm

Blutiger Schnee-Western: "The Hateful 8": Quentin Tarantino verwaltet sein Erbe

Fast drei Stunden lang und ultrabreit: Der Schnee-Western „The Hateful 8“ ist Quentin Tarantinos erstes Alterswerk.

Wer dem tieferen Sinn des sonderbaren neuen Großwerks von Quentin Tarantino auf der Spur sein will, tut zunächst gut daran, sich an die vom Regisseur selbst angebotenen beiden Referenzen zu halten. Der einzige Film, den Tarantino seinem Cast zur Pflichtsichtung auftrug, ist John Carpenters Antarktis-Horror-Movie „The Thing“ ( 1981). Und der zweite Titel, den er als nahen Verwandten von „The Hateful 8“ ausgemacht hat, ist sein eigenes Debüt „Reservoir Dogs“ – und das ist auch schon ein sattes Vierteljahrhundert her.

Beide Filme spielen in entlegenen, abgeschlossenen Welten oder Räumen, beide führen Menschen zusammen, die einander entweder grundsätzlich oder von einem gewissen Augenblick an misstrauen, beide sind brutale Wahrheitssuchen mit – geht man nur nach dem Blutzoll – etwas angestrengt shakespeareskem Königsdramenfinale. Kurt Russell, der in „The Hateful 8“ eine zentrale Rolle als Kopfgeldjäger spielt, war in „The Thing – Das Ding aus einer anderen Welt“ ein Hubschrauberpilot, der eine US-Forschungsstation vor der Zerstörung durch mörderisch verwandlungsfähige Aliens zu retten sucht; hierbei reicht die Ähnlichkeit von der Lust aufs visuell überwältigende Breitwandformat bis ins hyperdramatisch inszenierte Todestableau. „Reservoir Dogs“ versammelte acht Gangster, die nach dem missglückten Überfall auf ein Juweliergeschäft in 99 schlanken, aufregenden Filmminuten einen Verräter in den eigenen Reihen suchen, mit höchst wummenträchtigem Showdown in einer Lagerhalle.

Ein Wiedersehen mit den "Reservoir Dogs"-Finsterlingen

Im Schnee-Western „The Hateful 8“ nun gibt es nicht nur ein Wiedersehen mit zweien der Debüt-Finsterlinge; Tim Roth spielt diesmal einen distinguierten Briten, der als durch den Mittleren Westen reisender Henker in die Handlung eingeführt wird, und Michael Madsen stellt sich als hochsensibler Literat sowie Viehtreiber auf Weihnachtsreise zu Muttern vor. Auch spielt der überwiegende Teil des 167 Minuten verzehrenden Geschehens erneut in einem fast theaterhaft arrangierten Raum: Eine im Gebirge liegende Kutschenstation namens „Minnie's Haberdashery“ – Kramladen, Wirtshaus und Schlafstätte in einem – ist der Schauplatz des erneut mörderischen Geschehens, in dessen Vorbereitung die Protagonisten sich wiederum dialogreich belauern.

Der Rückgriff auf das eigene dynamische Frühwerk, überhaupt die Lust aufs Selbstzitat, aber auch die beachtliche Länge – mit beachtlichen Längen – sprechen, selbst wenn die Behauptung angesichts des 52 Jahre jungen Regisseurs merkwürdig erscheinen mag, für ein erstes Alterswerk Quentin Tarantinos. Mit den bei Publikum wie Kritik enorm erfolgreichen Filmen „Inglourious Basterds“ (2009) und „Django Unchained“ (2013) hatte dieser Ausnahmeregisseur des amerikanischen Kinos seinen Zenit erreicht. In „The Hateful 8“ nun verwaltet er, vor allem technisch seine in Hollywood inzwischen nahezu grenzenlosen Gestaltungsmöglichkeiten auskostend, erstmals fühlbar sein Erbe.

Nur vier Kinos in Deutschland zeigen die analoge Version

So gibt es neben der allgemein in den Kinos gezeigten digitalen Version eine – inklusive Ennio-Morricone-Ouvertüre und einer Pause nach dem dritten von sechs Kapiteln – 20 Minuten längere Zelluloidfassung im 70-mm-Format Ultra Panavision, das ein besonders imposantes Bild ermöglicht. In Deutschland existieren nur vier Kinos mit entsprechenden Vorführmöglichkeiten; in Berlin wird diese Technik, zuletzt weltweit vor 50 Jahren im Monumentalfilm „Khartoum – Aufstand am Nil“ eingesetzt, im Zoo Palast zu sehen sein. Alles mega also, alles giga, alles ultra: vielleicht nicht ganz großes, aber ganz breites Kino.

Inhaltlich wirkt „The Hateful 8“ zunächst wie ein schlichtes „Django Unchained“-Sequel. Nicht drei Jahre vor dem Ausbruch des amerikanischen Bürgerkriegs, sondern ein paar Jahre danach spielt die auf einen einzigen Tag verdichtete Handlung; wieder ist eine Kutsche in finsterer Mission unterwegs, wieder geht es um das Schachern und die Gier von Kopfgeldjägern, wieder steigt ein einsamer schwarzer Krieger, diesmal von Samuel L. Jackson statt Jamie Foxx verkörpert, auf unverwechselbar kompromisslose Weise ins Geschäft ein. Dabei verwendet Tarantino nicht weniger als die ersten 90 Minuten Kutschfahrt durch das tief verschneite, von einem Blizzard bedrohte Wyoming allein für die Exposition eines Teils der Figuren. In der gemächlichen Ausbreitung des Szenarios, das mit mancherlei frühen Finten überwiegend die kaum abgekühlte Feindschaft zwischen Schwarz und Weiß verhandelt, dürften sich vor allem die besonders geduldigen Leser historischer Romane zu Hause fühlen.

Das Kopfgeld für Daisy Domergue: 10.000 Dollar

Was geschieht tatsächlich in diesem langen Anfang von „The Hateful 8“? Eine gewisse Daisy Domergue (Jennifer Jason Leigh) soll für ein nicht genanntes Verbrechen gehängt werden. John Ruth (Kurt Russell), der sie an sich gekettet hat, will für ihre Auslieferung im Städtchen Red Rock 10 000 Dollar kassieren. Marquis Warren (Samuel L. Jackson), verdienter schwarzer Kavallerist auf Seite der Nordstaaten und inzwischen Kopfgeldjäger, kommt hinzu – mit drei Leichen im Gesamtwert von 8000 Dollar im Gepäck. Den vierten Platz in der Kutsche besetzt der weiße Rassist Chris Mannix (Walton Goggins), der behauptet, demnächst in Red Rock sein Amt als Sheriff anzutreten. Womit schon mal vier der „abscheulichen 8“ versammelt wären.

Nun soll der Film, in dem bald die genannten Bekannten aus „Reservoir Dogs“ und überhaupt alle Schauspieler ihre brillanten Auftritte haben, hier keineswegs auserzählt werden. Nur dies: Der Zuschauer wird mit mancher fiesen Wendung rund um die in verschiedenem Maß lügenhaften Charaktere, mit manchem Schock und manchem Splatterbild überreichlich für die Wartezeit entschädigt. Allerdings verliert „The Hateful 8“ von nun an seine stringent chronologische, ganz aus der dialogischen Progression geschaffene Form. Plötzlich meldet sich ein Erzähler, und teils bloß illustrative Rückblenden lassen das filmische Ergebnis bald merkwürdig ungelenk erscheinen. Eher knapp bleibt die Phase der durchaus spannenden, aber konventionellen kriminalistischen Aufklärungsarbeit, um wiederum einem überlangen, sich an brutalsten Gewaltbildern weidenden Finale Platz zu machen.

Hier geht es nur um den Menschen als scheußliche Kreatur

Anders als in „Inglourious Basterds“, wo Tarantino geradezu kathartisch die ganze Naziführerbande in die Luft jagte, anders auch als in „Django Unchained“, wo es fiesen weißen Südstaaten-Sklavenhaltern an den Kragen ging, zeigt „The Hateful 8“ im Ergebnis bloß den Menschen als solchen in seiner kreatürlichen Scheußlichkeit. Auch die zunächst breit erörterten Nachwehen des Bürgerkriegs wirken schließlich nur wie ein Vorwand für den lustvoll im Blut badenden Showdown. „The Hateful 8“ ist pures Genre mit draufgepapptem Überbau – und riskiert so, die Splatterfans ebenso zu enttäuschen wie jene spät gewonnenen Tarantino-Enthusiasten, die glaubten, in seinen Stoffen so etwas wie Substanz gefunden zu haben.

Vor einem guten Jahr hat Quentin Tarantino, womöglich altershalber, laut darüber nachgedacht, nach dem zehnten Film aufzuhören. „The Hateful 8“ ist nach eigener Zählung sein achter, wenn man die beiden im Abstand von einem Jahr ins Kino gekommenen „Kill Bill“ forsch als einen zählt – und folglich den Slasher-Schmuddelfilm „Death Proof“ (2007) aus dem „Grindhouse“-Double Feature mit Robert Rodriguez nicht unterschlägt (mit Kurt Russell als irrem Stuntman). Insofern wackelt die Ziffer 8, ebenso übrigens wie bei der Summe der titelgebenden Finsterlinge. Es sind neun – und mit welcher Begründung nähme man einen davon aus? Aber zählen und wählen Sie selbst.

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