Philippe Jaroussky singt Schubert-Lieder: Peter Pan im Herzen der Romantik
Einsame Höhepunkte der Interpretation: Der Countertenor Phlippe Jaroussky singt Schubert-Lieder in der Staatsoper Unter den Linden.
Wie oft wurde der Liederabend schon in die Krise hineingequatscht? Dabei gibt es wunderbare Konzertsäle auf der Welt, in denen das Lied quicklebendig ist, ja, die teilweise sogar selbst von Liedrecitals leben, die Wigmore Hall in London zum Beispiel oder der Markus Sittikus Saal in Hohenems oder unser blühend schöner Pierre Boulez Saal.
Nur wäre letzterer diesmal definitiv zu klein gewesen: Wenn Philippe Jaroussky zwanzig Schubert-Lieder vorträgt, mit seiner sopranhohen süßen Peter-Pan-Stimme, die nie erwachsen werden möchte, dann reichen die 1 300 Plätze der Staatsoper Unter den Linden gerade eben aus.
Jaroussky ist der Superstar unter den Countertenören unserer Zeit, der mit Abstand beste, vielseitigste. Er weiß um den aufreizenden Zauber seines Timbres und die Attraktion des androgynen Stimmfachs, aber er verlässt sich nicht darauf. Viel Arbeit steckt hinter dieser lupensauberen Intonation und dem langen Atem, seinen eleganten Phrasierungen und der vorbildlichen Treffsicherheit auch bei schnellstbeweglichen Koloraturen, was im Ergebnis, aller Kunst und Künstlichkeit zum Trotze, einfach und selbstverständlich klingt – und frisch.
Seine Fans lieben ihn dafür. Sie folgen Jaroussky überall hin, von der Renaissance bis in die Moderne, von Lully bis zu Debussy und Fauré, und nun auch ins Liederherz der deutschen Romantik. Vor neun Jahren hatte Jaroussky erstmals halböffentlich ein Schubertlied gesungen, in Japan. Zwei Mitschnitte von „Erlkönig“ und „An Sylvia“ sind längst auf Youtube zu bewundern.
Jetzt ist er zum ersten Mal offiziell mit einem Schubert-Recital unterwegs auf Europatournee, Start in Sevilla, Finale in Wien, gemeinsam mit seinem langjährigen Klavierpartner Jérôme Ducros. Berlin ist die fünfte Station.
Der erste Ton ist ein Schock - am Ende tobt der Saal
Und natürlich ist der erste Ton doch wieder ein Schock. Dieser helle, scharfe, kindliche Glockenton! Gewiss nicht zufällig haben die beiden just „Im Frühling“ an den Anfang ihres Recitals gestellt – ein Lied, das erstmals in Schuberts Todesjahr in einer Modezeitschrift veröffentlicht worden war und von Veränderung berichtet. Als variiertes Strophenlied vagabundiert es zwischen Dur und Moll, besingt Morgen und Vorgestern zugleich, ausgestattet mit einem langen, heiteren Klaviervorspiel, in welches der Sopran hineinplatzt auf einem Spitzenton.
Den trifft Jaroussky superb, gewissermaßen voll ins Schwarze. Wenn es hernach noch höher hinaufgeht, ins zweigestrichene F, zu den Worten „hell“ und „Quell“, muss er die betont leise ansetzen, wie ein Geheimnis. Zum Blühen bringt er sie nicht, sein Ambitus ist ausgereizt. Ducros dagegen ist manchmal ziemlich verliebt in die eignen Klavier-Pointen. Die dramatische verlängerte Zäsur vor der dritten Strophe wäre nicht nötig gewesen.
Auf diesem rasiermesserschmalen Grat zwischen höchster Vollendung und Gefährdung durch Übertreibung balancieren die beiden durch ihr abenteuerliches Programm. Bekanntes („An die Musik“) wechselt mit Rarem („Im Abendrot“), schnelle Kleinigkeiten („An die Laute“) mit Innenansichten und Balladeskem.
Der Pianist oftmals eine Spur zu salopp, der Sopranist beständig unter Strom, so ergänzen sie einander in schönstem Widerspruch, bis zu einsamen Höhepunkten der Interpretation, etwa der Zeit und Raum überspringenden Rückert-Vertonung „Sey mir gegrüsst“.
Die Spannung steigt im Saal, von Lied zu Lied, man könnte Stecknadeln fallen hören. Zwei späte Klavierbekenntnisse Schuberts sind ins Programm eingebettet, das Klavierstück Es-Dur D 946,2 sowie das Impromptus Ges-Dur D 899. Nie hätte man erwartet, dass ausgerechnet diese Stücke als Entreact-Zerstreuung funktionieren könnten. Als Zugabe singt Jaroussky „Leise flehen meine Lieder“. Der Saal tobt. Die Schlange der Wartenden, die anschließend um ein Autogramm anstehen, ringelt sich zweimal durchs Foyer.
Eleonore Büning