Lieberabend Golda Schultz: Sternstunde mit Schubert
Die südafrikanische Sopranistin Golda Schultz singt Schubert-Lieder im Pierre Boulez Saal.
Es ist wahrlich keine neue Erkenntnis, aber immer wieder gibt es Abende, die daran besonders eindringlich erinnern: dass im Liedgesang, im geglückten zumindest, drei Künste gleichzeitig anwesend sind und die Verschmelzung von Dichtung, Komposition und Stimme blitzhaft, augenblicksweise etwas ganz Neues, Einzigartiges hervorbringen kann. Zum Beispiel Abende wie der von Golda Schultz am Freitag im Pierre Boulez Saal, mit dem der über Jahre angelegte Zyklus sämtlicher Lieder Schuberts eine weitere Sternstunde erfahren hat. Weil die südafrikanische Sopranistin singt, als würde sie das, was die Lyrik erzählt, tatsächlich erleben. „Gretchen am Spinnrade“: der zarte, schwärmerische, furchtsame Gestus, die Sehnsucht nach dem fremden Mann, diesem Faust! Oder die „Junge Nonne“, auf ein Gedicht des schwer katholischen Jacob Nikolaus Craigher de Jachelutta: „Es klirren die Balken / Es zittert das Haus“. Aber dann – ein erlösendes, alle Gewitterfurcht hinter sich lassendes „Immerhin“! Und die feste Vorfreude auf den Heiland, den „Bräutigam“.
Wenn Schultz singt, wird das alles begreiflich, es ist, als blicke man direkt in die Seele der jungen Nonne. Weil sie kein aufgeputschtes, künstliches Drama aus den Versen macht, weil sie nicht nachdrückt, sondern die Lieder quasi von Innen aufschließt – und sie auf diese Weise umso eindringlicher wirken. Man hört Schultz’ Herkunft aus dem Operngesang – sie war bis 2018 Ensemblemitglied der Bayrischen Staatsoper – in jeder Sekunde, aber damit erdrückt sie die fragile Kunstform des Liedes keineswegs, macht das eine vielmehr fürs andere fruchtbar. Voluminös und enorm ausbalanciert ist ihre Stimme, mit juvenilem Schimmer in der äußersten Höhe. Sie veredelt jeden Vokal, höchste Gestaltungskraft aber schenkt sie dem „u“ („Wenn der Engel ruft“, „Seines Mundes Lächeln“): Immer, wenn es erreicht ist, scheint die Zeit still zu stehen. Diese Art des empfindsamen Singens macht selbst aus einer eher kunsthandwerklichen Dichtung wie „Viola“ von Franz von Schober ein Minidrama: Man vernimmt die traurige Geschichte des zu früh erblüten Schneeglöckchens und ist ehrlich betroffen.
Ein unsichtbares Band des Einverständnisses spannt sich zwischen Pianist und Sängerin
Was selbstverständlich auch viel mit Schuberts unerreichter Kunst zu tun hat, den Gehalt eines Textes intuitiv zu erfassen und durch kleinste Mollleintrübungen oder kongenialen Rhythmuserfindungen in Musik zu übertragen. Eine Kunst, die sich gerade unter der Lupe des minimalistischen Liedgesangs voll entfalten kann – und die bei Pianist Jonathan Ware in besten Händen ist. Der Amerikaner spielt sich nie in den Vordergrund, liefert aber jederzeit die verlässliche Basis für Schultz’ Gesang; sein Anschlag ist suggestiv, flexibel, folgt dem Atem. Ein unsichtbares Band des Einverständnisses spannt sich zwischen ihm und der Sängerin, des still Empfundenen und Verstandenen.
Schultz versteht sich nicht als entrückte Priesterin der Kunst, kommuniziert mit ihrem Publikum, scherzt, und wer ihr welt- und herzaufschließendes Lächeln nicht sieht, hört diese Lieder anders. Lieder, die von Heimweh handeln, von Hoffnung und Liebe, vom Ost- und Westwinde (Goethes „Suleika I und II“) und dem Sterben in heiliger Glut (Novalis’ „Nachthymne“). Und wieder die Erkenntnis: Schuberts Gedichtvertonungen sind ein Kontinent, den man ein Leben lang bereisten könnte. Gegen Ende wird der Abend dunkler, Schultz singt jetzt von Nacht und Tod: „Uns sammelt alle, klein und groß / Die Mutter Erd’ in ihren Schoß / O säh’n wir ihr ins Angesicht / wir scheuten ihren Busen nicht!“ Kein Knalleffekt, dafür sanftes Entschlummern. Alles andere hätte den Geist dieses wunderbaren Abends auch verraten.