Countertenor Philippe Jaroussky: „Beim Bügeln vergesse ich das Singen“
Er ist reisesüchtig, träumt von seiner Auszeit in Südamerika. Warum Philippe Jaroussky, begnadeter Countertenor, kein Sklave seiner Stimme sein möchte. Unser Sonntags-Interview in voller Länge.
Monsieur Jaroussky, Sie haben bei der Eröffnungsfeier der Elbphilharmonie gesungen, waren im letzten Jahr Artist in Residence im Berliner Konzerthaus, wurden schon zweimal zum Echo Klassik Sänger des Jahres gekürt ...
… manchmal habe ich fast das Gefühl, dass die Deutschen mich adoptiert haben. Nach Frankreich ist es das Land, wo ich am häufigsten auftrete.
In der Berliner Philharmonie geben Sie jetzt ein Konzert mit Arien von Georg Friedrich Händel. Was fasziniert Sie so an ihm?
Er ist der Beste! Seine Harmonien sind viel reicher als die aller Opernkomponisten seiner Zeit, es gibt einen richtigen Dialog zwischen Stimme und Orchester. Und was ich sehr berührend finde: dass ich manchmal ganz tief die Bewunderung spüre, die er für bestimmte Sänger empfand. Mir gefällt auch seine Widersprüchlichkeit. Händel war als schwieriger Charakter bekannt, galt als cholerisch, aber seine Musik hat etwas sehr Sensibles, Sinnliches, Süßes.
Auf einer Tournee wie dieser ziehen Sie von einer Stadt zur nächsten. Ganz schön anstrengend.
Ich habe eine wichtige Fähigkeit: Ich kann gut schlafen. Zehn, zwölf Stunden lang. Im Schlaf erholen sich die Stimmbänder. Vor einem Konzert stehe ich erst mittags auf, spreche nach dem Aufwachen zwei Stunden lang mit niemandem, wecke den Körper langsam auf und singe nur ein paar Übungen. Am Tag des Konzerts ist es mein Job, nichts zu tun. Perfekt! Ich bin nämlich faul. Ich weiß, was für ein Luxus das ist, du kannst machen, was du willst, niemand sitzt neben dir und macht Druck. Viele Menschen kennen das überhaupt nicht, haben Familie, rennen herum.
Das mit der Faulheit muss ein Scherz sein. Sie haben allein 30 CDs aufgenommen!
Ich bin neugierig! Dauernd habe ich neue Projekte im Kopf, die ich unbedingt machen möchte. Wir reden ja immer davon, dass die CD stirbt, nehmen aber gleichzeitig ganz viele auf. Vielleicht gerade deshalb – bevor es vorbei ist.
Sie zu Hause in Paris anzutreffen, ist Glückssache.
Ich bin gerade von einer zweiwöchigen Konzertreise zurückgekehrt. Da musste ich erst mal
was kochen. Ich hatte genug von Restaurants und Room Service.
Und, was gab’s?
Pot-au-feu, das dauert schön lange. Kochen ist eine gute Methode, um den Kopf frei zu kriegen, da denkst du an nichts anderes. Deswegen bitte ich auf Konzertreisen auch immer um ein Bügeleisen in der Garderobe. Ich will mein Hemd selber glätten. Dabei vergesse ich das Singen, höre auf, meine Stimme zu prüfen – ich bügle mein Hirn.
Sie sind bekannt für Ihr Outfit: schwarzes Hemd, schwarzer Schlips, schwarzes Jackett.
In Barockorchestern tragen die meisten Musiker schwarz. Wenn ich mich kleide wie sie, werde ich Teil von ihnen. Ich betrachte meine Stimme als eine Art Instrument zwischen den anderen. Man sieht auch stärker Hände und Gesicht. Schwarz hat was Nüchternes, der Fokus liegt dann noch mehr auf der Musik.
"Bei Sängern redet man ganz viel über den Körper"
Sie haben ja mal ein richtiges Instrument gespielt, Geige. Wie würden Sie die beiden vergleichen?
Anfangs habe ich meine Stimme vielleicht sogar zu sehr wie ein Instrument behandelt, mich zu stark auf Technik, Rhythmus, Phrasierung konzentriert. Ich wusste gar nicht, wie das geht, Worte auszudrücken, ehrlich rüberzubringen. Gerade in der Oper übertreiben wir oft, da ist permanent Krise, großes Drama. Aber man muss sich genau überlegen, was man sagen will. Das möchte ich mit jungen Musikern teilen, das ist ein Grund, warum ich jetzt meine Akademie gegründet habe.
In der Schule am Rande von Paris gibt es nicht nur ein Programm für junge Musiker, sondern auch eins für Kinder. Ziemlich ungewöhnlich, oder?
Ich komme selber aus einer Familie, in der nicht musiziert wurde. Hätte ich an der Schule nicht diesen Lehrer gehabt, der meinen Eltern gesagt hat: Ich glaube, Philippe muss musizieren, hätte ich das nie getan. Das hat mein Leben verändert! Ich möchte Kindern aus schwierigen Umständen, auch Einwandererfamilien, die Chance geben, mit klassischer Musik in Berührung zu kommen. In den Banlieues von Paris gibt es viele Sportprojekte, was toll ist. Doch es gibt auch Kinder, die unsportlich sind, dafür musikalisch.
Und am Ende sind alle glücklich?
Natürlich wird es Schwierigkeiten geben, einige werden aufgeben. Aber das Programm ist intensiv, die Kinder, die Klavier, Geige und Violoncello lernen, sollen dranbleiben wollen, weil sie Fortschritte machen. Ich möchte, dass sie überrascht sind über sich selbst. Sie werden schnell richtige Musik spielen, keine blöden Übungsstücke, sondern kleine Sachen von Mozart, Schubert.
Wann wussten Sie, Sie wollen Musiker werden?
Mit elf habe ich angefangen, Geige zu spielen. Ich war total fasziniert von Musik, habe dauernd gespielt. Mit 16 wusste ich, dass ich zumindest versuchen wollte, Musiker zu werden.
Und Ihre Eltern haben Sie unterstützt?
Ja, ja! Sehr!
Ihre eigene Geschichte ist eine große Überraschung: Sie studierten Komposition, als Sie im Konzert eines Countertenors saßen und beschlossen: Das will ich auch! Was hat Sie so sicher gemacht?
Das ist schwer zu erklären. Ich war ja vorher nicht mal im Chor. Zu Hause habe ich schon etwas höher gesungen als üblich, und als Geiger fühlt man sich von hohen Noten angezogen. Als ich hörte, wie Fabrice de Falco die Händel-Arien sang, hatte ich tief in mir dieses Gefühl: Das ist meins! Man nennt es Berufung. Diese Stimme hat mich gerufen. Die Entscheidung, Countertenor zu werden, habe ich praktisch an einem Abend getroffen. Wobei ich auch als Geiger nicht so glücklich war. Immer wieder bekam ich zu hören, dass ich zu spät angefangen habe. Im Unterricht ging es vor allem um Technik. Bei Sängern redet man ganz viel über den Körper. Die Stimme ist ja in dir drin.
Und, wie war das?
Als ich mit 18 anfing zu singen, empfand ich plötzlich ein Vergnügen, eine Begeisterung, wie ich es mit den Instrumenten nie erlebt hatte. Countertenor ist etwas sehr Spezielles. Aber die Stimmlage kam meiner Persönlichkeit am nächsten. Ich kann mehr von mir geben, meiner Seele.
Inwiefern?
Wir haben ja alle eine maskuline und eine feminine Seite in uns, als Countertenor nimmt man das an. Es gibt Leute, die finden, ein Mann sollte nicht so singen, das sei lächerlich – für andere ist es magisch. Oft heißt es, dass wir wie Frauen singen, aber das stimmt nicht. Mir ist eher aufgefallen, dass viele meiner Kollegen etwas sehr Jungenhaftes haben. Ich auch! Selbst mit knapp 40. Vielleicht trägt die Stimme dazu bei, sich das zu bewahren.
Macht Ihnen das Älterwerden als Sänger Angst?
Die Stimme verändert sich natürlich, wird größer, tiefer. Man verliert vielleicht an Flexibilität und Agilität, wenn man die behalten will, muss man dran arbeiten. Dafür übertreiben junge Sänger oft beim Spiel. Mit dem Alter wird das natürlicher.
Aber ist es nicht doch eine Bedrohung?
Ich habe viele Sänger erlebt, für die es eine Katastrophe war, ihre Stimme zu verlieren. Ihr ganzes Leben haben sie damit verbracht – und plötzlich können sie nicht mehr. Das ist auch ein Grund, warum ich die Akademie gegründet habe und dirigiere. Ich war Musiker, bevor ich Sänger wurde, und werde Musiker bleiben, nachdem ich Sänger war. Wenn ich Fans sage, dass ich nicht sicher bin, ob ich in zehn Jahren noch singe, sind sie geschockt. Mir gefällt die Idee, dass ich aufhören könnte, dass es ein Limit gibt. Umso mehr genieße ich den jetzigen Moment.
Es muss schwer sein, zu entscheiden, wann dieser Augenblick des Aufhörens gekommen ist.
Ich möchte nicht der Sklave meiner Stimme sein. Deswegen habe ich vor ein paar Jahren ein Sabbatical genommen, ein Dreivierteljahr. Um zu leben. In den ersten zwei Monaten hatte ich Schuldgefühle, nicht zu singen. Und nach vier Monaten das Gefühl, für immer aufhören zu können. Ich dachte, vielleicht ist es nicht so wichtig, wie ich immer dachte, es gibt andere kostbare Dinge im Leben.
Wie hat das Ihre Stimme verändert?
Das ist wie der Neustart eines Computers. Es geht mir auch darum, nicht zur Musikmaschine zu werden – von einem Konzert zum anderen, das Geld einzukassieren, wieder weiter –, frisch zu bleiben.
War das nicht ein Riesending, eine Auszeit zu nehmen? Sie sind Jahre im Voraus gebucht.
Deswegen ist es ja so einfach. Ich weiß schon, wann ich meine nächste Auszeit nehme: Anfang 2019, fünf Monate.
"Manchmal sind die Leute sogar ruppig zu mir"
Und was machen Sie im Sabbatical?
Reisen! Ich bin reisesüchtig. Den Winter in Südamerika verbringen. Ich spreche sehr gerne Spanisch, mir gefällt die Kultur dort. Die Bevölkerung ist sehr jung, es gibt diese unglaubliche Energie. Die Menschen genießen die Gegenwart, tanzen und singen auf der Straße.
Und das machen Sie dann auch?
Das vielleicht nicht. Aber die Energie hat was Ansteckendes. Die Menschen berühren mich, sie sind warmherzig, enthusiastisch.
Sie sind doch sowieso immer unterwegs.
Auf Konzerttour habe ich nie Zeit, mir was anzugucken, in Ruhe Freunde zu treffen. Wenn Sie mit einem Orchester touren, können Sie keinen freien Tag zwischendurch einschieben, das würde viel zu teuer. Und als Sänger wirst du zum Baby. Alle sorgen sich um dich, du wirst am Flughafen abgeholt, kriegst was zu essen gebracht, musst dich um nichts kümmern. Wenn du privat reist, kennt dich keiner, bekommst du keine Spezialbehandlung.
Und das gefällt Ihnen?
Ja! Manchmal sind die Leute sogar ruppig zu mir. Das ist das Leben, oder nicht? Als Sänger sind alle nett zu dir – aber vielleicht nur, weil du Sänger bist. Deswegen ist es wichtig, zwischendurch in die Realität zurückzukommen.
Wie können Sie überhaupt Beziehungen aufrechterhalten, Freundschaften?
Ich bin seit zehn Jahren mit meinem Partner zusammen, das funktioniert gut. Allerdings passt er sein Leben eher meinem an, ich kann meinen Job ja nicht zu Hause machen. Mit Freunden ist es schwieriger, selbst mit der Familie.
Leben Ihre Eltern noch in dem Vorort von Paris, in dem Sie aufgewachsen sind?
Meine Mutter, ja. Mein Vater ist letztes Jahr gestorben. Er war 74, es ging sehr schnell, Krebs, es war nichts zu machen. Ein Elternteil zu verlieren, ist ein gewaltiger Einschnitt. Ich habe so viel Glück gehabt, eine liebevolle Familie, Erfolg, Freunde, ein schönes Leben in Paris, Reisen. Bis dahin war ich immer behütet, ist mir nichts wirklich Schlimmes passiert. Sein Tod hat für mich viel verändert. Positiv. Wir jammern ja immer über irgendwas, merken gar nicht, was für ein Geschenk das Leben ist. Und plötzlich stirbt jemand, den du liebst. Da wird es dir bewusst. Sein Tod hat mir eine gewisse Distanz gegeben, was wichtig ist und was nicht. Auch auf der Bühne, da versuche ich weniger zu repräsentieren, einfach da zu sein. Vielleicht schockiert Sie das – aber ich habe das Gefühl, dass ich heute besser singe. Mit mehr Tiefe.
Musik ist extrem emotional.
Das stimmt, aber wir müssen ihr stärker vertrauen, uns nicht vor sie stellen. Ein Dirigent hat mir mal gesagt: Vielleicht sollten wir einfach die Noten singen. So, wie sie da geschrieben stehen. Ich bin ein Riesenfan von Ella Fitzgerald. Sie singt genau den richtigen Ton, nicht mehr, nicht weniger. Sie ist sie selbst.
Sie haben auch religiöse Lieder im Repertoire, fühlen Sie sich dem verbunden?
Ich glaube nicht an Gott, aber ich habe eine Verbindung zu sakraler Musik, ihrer Spiritualität. Vielleicht sogar noch mehr als zur Oper. Da verkörperst du eine Figur. Wobei es mir ohnehin schwerfällt, jemand anders zu sein, darum geht’s ja in der Oper, du musst König werden, Liebhaber, Mörder. Bei sakraler Musik geht es um mehr als dich. Das ist universeller.
Auf Tour führen Sie das Leben eines Geschäftsmannes, fliegen Businessclass, übernachten in Businesshotels. Leben Sie in Paris mehr als Künstler?
Oh ja. Das ist ein Grund, warum ich die Stadt so liebe. Wobei auch das Leben hier eine Art Blase ist. Ich gehe in Biorestaurants, versuche umweltbewusst zu leben – dabei fliege ich die ganze Zeit, ein Desaster für den Planeten. Ich stecke voller Widersprüche, wie jeder. Man hat politische Ideen, und macht das Gegenteil ...
Gerade Ihr Viertel – multikulturell, lebendig – wurde Ziel der Anschläge 2016. Haben Sie jetzt mehr Angst?
Damals hat mir die Möglichkeit große Angst gemacht, eine Frau wie Marine Le Pen könnte Präsidentin werden. Im Pariser Alltag fürchte ich mich nicht. Nur beim Fliegen bin ich etwas nervös. Aber manchmal denke ich, ich könnte morgen sterben, ich habe so ein intensives Leben gehabt. Vielleicht hat das wieder mit dem Tod meines Vaters zu tun, dass ich seitdem das Gefühl habe: Alles was jetzt kommt, ist ein Bonus. Das ist sehr schön. Was ich noch mache, ist die reine Freude.
- bbbbbb
- Brandenburg neu entdecken
- Charlottenburg-Wilmersdorf
- Content Management Systeme
- Das wird ein ganz heißes Eisen
- Deutscher Filmpreis
- Die schönsten Radtouren in Berlin und Brandenburg
- Diversity
- Friedrichshain-Kreuzberg
- Lichtenberg
- Nachhaltigkeit
- Neukölln
- Pankow
- Reinickendorf
- Schweden
- Spandau
- Steglitz-Zehlendorf
- Tempelhof-Schöneberg
- VERERBEN & STIFTEN 2022
- Zukunft der Mobilität