Streiks in Frankreich: Pariser Theater holen Zuschauer mit dem Bus ab
Streik à la française: Die Pariser Kulturszene erklärt sich im Protest gegen die Rentenreform solidarisch – und sehr erfinderisch.
Wer in diesen Wochen in Paris zu tun hat, muss sich auf Störungen seiner Alltagsroutinen einstellen. Schwierigkeiten drohen auch nach dem Weihnachtschaos an allen Ecken und Enden der Stadt. Deshalb ist die beruhigende Information vor dem Beginn der Reise willkommen: Der TGV von Brüssel nach Paris fährt und rollt pünktlich in den abendlich ruhigen Gare du Nord ein. Aber wenige Minuten später senkt sich vor den Ankommenden das Rollgitter filmreif vor dem Zugang zur Métro Linie 4. Im Hintergrund verkündet eine Lautsprecherdurchsage das Ende des U-Bahnbetriebs. 19:45 Uhr, nichts geht mehr. Der Grund: Die streikende RATP fährt die Pendler in eingeschränktem Betrieb in überfüllten Zügen zwar zur morgendlichen und abendlichen Rushhour, aber am Rest des Tages und am Abend ruht der Betrieb.
Das ist Streik à la française: Der Regierung soll Entschlossenheit demonstriert werden, aber die Bevölkerung soll damit auch irgendwie zurechtkommen können. Das Ergebnis ist eine bizarre Statistik: Die Mehrheit der Franzosen steht auch nach mehr als einem Monat nach wie vor hinter dem nunmehr längsten Streik gegen eine Rentenreform in Frankreich. Dieselbe Mehrheit findet aber auch, dass er jetzt mal aufhören könnte.
Das Orchester der Garnier-Oper spielt die „Marseillaise“
Die kommunistische Gewerkschaft CGT hat zum verschärften Streik an genau drei Abenden aufgerufen, an denen in Paris drei wichtige Premieren stattfinden sollen. Die meisten Theater spielen; nur an der Comédie Française streikt die Bühnentechnik. Vor der alten Garnier-Oper hatte das Ballett bereits streikunterstützend getanzt; das Orchester hatte vor der modernen Bastille-Oper ein Mini-Konzert gegeben, das mit einer Orchesterfassung der „Marseillaise“ endete.
Der Weg von der Gare die Nord zur Unterbringung lässt sich zu Fuß absolvieren, aber der Weg nach Nanterre, zum Théâtre des Amandiers, der für den nächsten Tag ansteht? Der Weg nach Bobigny wird ein noch größeres Problem. In den Vororten Nanterre und Bobigny stehen zwei der wichtigsten Theater der Pariser Banlieue. Am Vormittag schickt das Théâtre des Amandiers in Nanterre eine Mail: Wir spielen, steht da zu lesen, und der theatereigene Shuttlebus verspricht auf seiner letzten Tour kurz vor Mitternacht bis zur zentralen Place du Châtelet zu fahren.
Gut, denn alle Fahrten am Abend sind ein Problem: Pro Stunde fährt eine Bahn, vielleicht. Die Hinfahrt verläuft nun noch flotter als erwartet, denn die vollautomatische Linie 1 fährt derzeit zwischen der Place de la Concorde und Neuilly einfach ohne Halt durch die Stationen unterhalb der Champs-Élysées, unter anderem um zu vermeiden, dass aussteigende Fahrgäste auf der Suche nach dann doch nicht vorhandenen Umsteigemöglichkeiten durch die weitverzweigten U-Bahn-Gänge irren.
Auch Theateraufführungen fallen dem Streik zum Opfer
Vor der Aufführung in Nanterre nehmen ein paar Mitarbeiter des Théâtre des Amandiers auf der Vorderbühne Aufstellung, erklären sich beiläufig mit dem Streik solidarisch und beklagen die mangelnde Vorbereitung eines großen Sanierungsprojektes für ihr großes Vororttheater. Patrice Chéreau hat hier einst legendäre Inszenierungen herausgebracht. Jetzt gibt es Zoff mit dem Bürgermeister. Chef Philippe Quesne, der gerne auch im Berliner HAU gastiert, hat im Sommer hingeworfen, ein Nachfolger ist noch nicht in Sicht. Man hat Angst um das Theater, Angst um den Arbeitsplatz.
Dann verzaubert „Contes et Légendes“, ein Stück über Jugend und künstliche Intelligenz, ein geradezu meisterhaftes, fast anthropologisch zu nennendes Menschentheater des Joël Pommerat, dessen Stücke in Deutschland gerne nachgespielt werden, vor allem sein letztes über die französische Revolution. Am Théâtre de l’Odéon hat das Publikum weniger Glück. Eine Voraufführung von „Un conte de Noël“ fällt dem Streik zum Opfer.
Deshalb wird es jetzt etwas komplizierter: Die Webseite des Odéon meldet am Tag vor der Premiere, dass man um 16:30 Uhr verkünden werde, ob gespielt werden kann. Außerdem wird „Un conte de Noël“, die Aufführung über eine ausgeflippte französische Familie im Weihnachtsfieber, nicht im Haupthaus in der Innenstadt gespielt, sondern in einer umgebauten Fabrikhalle vor den Toren der Stadt. Ein einstündiger Fußmarsch steht an. Parkende Elektroroller und Mieträder, sonst lästige Hindernisse auf Gehwegen, sind aus dem Stadtbild fast verschwunden. Viele werden in Wohnungen und Treppenaufgängen gehortet für den nächsten Einsatz im Plan B des Streikverkehrs.
Paris funktioniert im Streikmodus, irgendwie
Nach der Premiere ein paar Gespräche über den Umgang mit dem Streik. Ein Kollege hat die Redaktionssoftware auf seinem Notebook, arbeitet von zu Hause und bewegt sich seit Wochen zwischen der Wohnung und den Theatern mit dem Fahrrad. Eine Kollegin seufzt: Von Uber zum normalen Taxi über Mietvehikel zu langen Fußwegen hat sie die Möglichkeiten ausgeschöpft und ist jetzt einfach nur noch müde. Paris ist Ausstände gewohnt, die Stadt funktioniert dann eben im Streikmodus. Auch die Theater wollen verhindern, dass man Wege umsonst macht, und informieren rechtzeitig. Der Umgang mit dem Ausstand ist vorbildlich organisiert. Man kommt irgendwie klar. Aber jetzt wollen fast alle nur noch, dass es aufhört mit dem Streik.
Auch in der Aufführung am MC93 in Bobigny wird noch einmal mit Weihnachten abgerechnet. Auch hier geht es um Familienrituale und ihre aggressive Grundnote. Jean-Christophe Meurisse inszeniert seine publikumswirksame Stückentwicklung „Tout le monde ne peut pas être orphelin“ als Abrechnung zwischen den Generationen, als wilde Farce. Das Theater hat einen Shuttlebus angemietet. Aber der bleibt im Megastau stecken.
Der Premierminister hat Stunden zuvor symbolträchtig ein Reformdetail zurückgezogen, wahrscheinlich um die Streikfront zu spalten. Die reformwillige CFDT-Gewerkschaft ist jetzt auf Regierungskurs. Aber beim Transport ist die CGT Wortführer. Sie hat im letzten Jahr die Gelbwestenproteste genau verfolgt, jetzt ist sie wieder zur Speerspitze geworden im politischen Kampf gegen Macrons neoliberale Reformen. In Frankreich ist wieder alles beim Alten, nur mit Weihnachten will man nichts mehr zu tun haben.
Eberhard Spreng