Sinn und Unsinn von Immersion: Ob „Werk ohne Autor“ oder „Dau“: Film und Kunst an der Grenze
Wer Mauer und Gaskammer nachbaut, rührt an Tabus. Eine Kolumne.
Beides hat es so noch nie gegeben. In Florian Henckel von Donnersmarcks neuem Spielfilm „Werk ohne Autor“ folgt die Kamera einer der Hauptfiguren, die von den Nazis im Rahmen des „Euthanasie“-Programms ermordet wurde, bis in die Gaskammer. Beim heftig diskutierten Kunstprojekt „Dau“ des russischen Filmregisseurs Ilya Khrzhanovsky will man in der deutschen Hauptstadtmitte bis zum 9. November eine Replik der Berliner Mauer errichtet und den Besuchern nach Erwerb eines „Aufenthaltsvisums“ innerhalb des eingeschlossenen Areals eine „immersive“, also möglichst eindringliche Vorstellung von Totalitarismus und Unfreiheit vermitteln.
Nach der Uraufführung von „Werk ohne Autor“ jüngst bei den Filmfestspielen von Venedig hat nicht nur die Gaskammer-Szene einige Kritiker irritiert; es wurde auch moniert, dass der Regisseur (fiktive) Aufnahmen vom alliierten Bombenangriff auf Dresden im Februar 1945 und von sterbenden deutschen Soldaten an der Ostfront gleichsam „gegengeschnitten“ habe. Eine geschichtsklitternde Analogie, eine Gleichsetzung mit dem Holocaust?
Und, apropos „Dau“: Werden mit einer Berliner Kunst-Mauer die Opfer der realen Mauer missachtet oder für ein Event gar instrumentalisiert?
Muss die Kunst gewisse Tabus wahren?
Beides berührt „den Bezirk der ästhetischen Wahrhaftigkeit“, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung anlässlich des Donnersmarck-Films in Venedig schrieb. Tatsächlich stellen sich ja verwandte oder auch weiter führende Fragen. Beispielsweise ist – aus offensichtlichen Gründen – noch niemand auf die Idee gekommen, ein KZ (und eine Gaskammer) nachzubauen, um das Publikum (vorher kahlgeschoren) über NS-Gräuel aufzuklären. Auch wird bisher niemand probegefoltert, um durch Immersion den Sinn des Tortur- Verbots zu bekräftigen.
Es geht allemal um die Freiheit der Kunst. Doch geht’s hier auch um die Frage, ob die in ihrer Freiheit gegenüber staatlichen oder gesellschaftlichen Eingriffen zu verteidigende Kunst nicht um ihrer eigenen Wahrhaftigkeit willen gewisse Tabus selbst wahren muss. Einfachstes Beispiel: Wer einen Film über Kinderschänder macht und dabei die Schändung von Kindern zeigt, bricht, abgesehen von Strafgesetzen, ein moralisches und künstlerisches Tabu. Macht das Werk zum missbrauchenden und missbräuchlichen Machwerk.
Der kürzlich verstorbene französische Regisseur Claude Lanzmann, der in seinem Meisterwerk „Shoah“ Opfer und Täter nur erzählen lässt, hat gesagt: Die Shoah (der Holocaust) entzieht sich der nachinszenierenden, nachspielenden Darstellung. Er hatte Steven Spielbergs Film „Schindlers Liste“ einst vorgeworfen, dass Spielberg seine Schauspieler schamlos in eine nachgestellte Gaskammer getrieben habe. Das freilich war Lanzmanns Irrtum. Denn Spielberg folgte mit der Kamera zwar dem Blick der Opfer – aber aus den Duschen in der Decke kam nach den Momenten des Entsetzens: wirklich Wasser. Der hier erlösende Irrtum bedeutete für den mitfühlenden Zuschauer wie einst im griechischen Drama eine Katharsis. Immersion gab’s in der Kunst nämlich immer schon.
Kunst lebt von Verrücktheit, Wagnis, oftmals Grenzüberschreitung
Ich habe den erst demnächst in die Kinos kommenden Donnersmarck-Film noch nicht gesehen. Doch ein Vorausexemplar des in der kommenden Woche bei Suhrkamp erscheinenden Drehbuchs zum „Werk ohne Autor“ erweist, dass der Vorwurf der Geschichtsklitterung durch eine Bild-Montage von Bombenopfern und den als „lebensunwertes Leben“ vergasten Menschen wohl nicht zutrifft. Henckel von Donnersmarck behauptet keine innere Kausalität, er zeigt die Bombennacht von Dresden bewusst vor der Gaskammer-Szene und evoziert in der gesamten wechselnden Abfolge von Bildern nur ein mit den Schicksalen der einzelnen Filmfiguren verknüpftes Schreckenspanorama der Monate gegen Ende des Weltkriegs.
Was das Drehbuch nicht erzählt, ist die tatsächliche Wirkung im Kino. So macht es einen Unterschied, ob jene dem englischen Filmtitel „Never Look Away“ folgende Gaskammerszene still, schreiend still gezeigt wird, oder, wie in Donnersmarcks Filmen allzu üblich, von stimmungsmalerischer Musik im Hollywoodstil unterlegt. Und nochmal zu „Dau“: Man müsste es erstmal erleben, um zu beurteilen, ob nicht ein Besuch der vorhandenen Gedenkstätten zu Mauer und DDR-Diktatur viel immersiver wäre. Aber Kunst ist eben auch etwas anderes als bloße Information. Kunst lebt von Verrücktheit, Wagnis, oftmals Grenzüberschreitung. Nur darf man jedes Mal an einer Grenze auch fragen: woher und wohin?
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