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Selbstanklage vor Nobelfassaden. Szene aus Olivier Pys Gesellschaftsgroteske „Les Parisiens“.
©  AFP/Boris Horvat

Festival d’Avignon: Notfalls hilft Champagner

Antigone als japanische Prinzessin. Eine Souffleuse im Bann der Erinnerungen. Und die Traumata des ruandischen Völkermordes: Impressionen vom Festivalauftakt im südfranzösischen Avignon.

Wasser bedeckt knöcheltief die weite Bühne des Papstpalastes von Avignon. Mehr als 20 Akteure in weißen Gewändern waten bedächtig zwischen Felsen umher, mit Kerzen in den Händen. Dann gleitet ein Fährmann mit einem Floß zwischen ihnen hindurch und sammelt die Lichter ein – weil ihre Träger nun in den Hades eintreten müssen.

Diese „Antigone“-Version spielt auf dem Acheron, der Passage zwischen Leben und Tod. Satoshi Miyagi macht seine Schauspieler nicht zu Akteuren einer Tragödie, deren Konflikt sich vor den Augen der Zuschauer entfaltet, sondern zu Figuren in einem Mythenspiel, das rituell an eine lange vergangene Geschichte erinnert. Im seinem vom Bunraku und Kabuki, vor allem aber vom humoristischen Rakugo beeinflussten Theater doppelt der Regisseur die Protagonisten, allen voran Antigone und die auf Ausgleich bedachte Ismene: Zwei Schauspielerinnen hocken bewegungslos auf Schemeln im Wasser und sprechen die Worte, zwei weitere sind in dramatischer Pose auf einem zentralen Felsen zu sehen, werfen gewaltige Schatten auf die Fassade des Palastes. Einmal ist da auch der Schatten einer segnenden Marienfigur zu ahnen.

Betörend schönes Bildertheater

Antigone, die Kämpferin gegen die Tyrannenwillkür als antike Vorläuferin der christlichen Kultur? Ein Gedanke, der in der Aufführung keine Fortsetzung findet. Für Europäer wäre naheliegend, den alten Streit der Rechtsauffassungen mit der Gegenwart des neuen Despotismus zu verknüpfen. Denn natürlich sind wir Europäer mit Antigone fürs Menschenrecht und gegen die Entscheidungswillkür. Aber dieses betörend schöne Bildertheater mit seiner abgeklärten, zeremoniellen Gestik und seiner musikalisch getakteten Liturgie hat solchen Streit längst hinter sich gelassen: Es spricht ja schon aus dem Totenreich zu uns.

So sitzt das Publikum also staunend und verzaubert vor einem Ritus, dessen Plot genauso dem Mahabharata oder einem anderen asiatischen Mythos hätte entnommen sein können und erlebt Antigone als eine japanische Prinzessin im Zwischenreich, wo allein schon das Wasser mit seinen lustigen, aufs finstere christliche Mauerwerk projizierten Reflexen die Sinne verzaubert.

Festivalleiter Olivier Py bringt seinen Roman „Les Parisiens“ auf die Bühne

Der Preis für diese atemberaubende Schönheit ist hoch. Sie ist nur im Reich der Toten zu haben, unter den Lebenden gibt es die Schönheit nur im Fragment oder in hochfliegenden Ideen. Olivier Py, Schauspieler und Regisseur, Romancier und Festivaldirektor in Avignon, hat seinen eigenen Roman „Les Parisiens“ auf die Bühne gebracht und lässt zwei Strategien der Suche nach der Schönheit im Leben aufeinanderprallen. Aurélien kommt aus der Provinz und will in der Hauptstadt Karriere machen. Lucas hat eine problematische Vaterbeziehung, wird von Schuldgefühlen geplagt und äußert sich in einer verfinsterten Poesie. Beide sind zu Beginn ein schwules Paar. Paris sucht gerade einen neuen Intendanten für die Oper, und eine Strippenzieherin, die an Aurélien Gefallen gefunden hat, sorgt dafür, dass ihr Protegé als Jungregisseur später seine Chance bekommt. Aurélien, die heitere Lichtgestalt, gefällt zynischen Mäzenen, dem depressiven Kulturminister und anderen Playern in den Zirkeln der Macht und spielt meisterlich auf der Klaviatur der Verführungen.

Aber sein Herz schlägt für eine Gruppe von schwullesbischen Randgestalten. Mit krassem Straßentheaterspiel, hoch fliegenden Armen und aufgerissenen Augen erzählt dieses Volkstheater von Parisern, die unentwegt von den großen Sinnfragen heimgesucht werden. Den Erfolgreichen droht Impotenz, Verdruss und Sinnkrise, den Armen wird göttliche Weisheit zuteil. Aber auch für Reiche gibt es bei Py Trost: Wenn sich ein metaphysischen Problem ankündigt, greifen sie zum Champagner.

Aurélien und Lucas: Zwei Seiten in der Seele des Autors Olivier Py. Während Aurélien von Erfolg zu Erfolg eilt, gerät der andere immer tiefer ins Leiden an sich selbst, in die existenziellen Fragen nach dem Kern der Liebe, des Lebens und der Existenz Gottes. Hier ist Katholik Py ganz in seinem Element: „Deine Wunde ist die Sprache und diese Wunde kann nur Gott heilen.“ Sätze wie diese muss sich das Publikum in viereinhalb langen Theaterstunden anhören. Was der Sufismus im Islam, das ist Olivier Pys fromme Philosophie im Katholizismus: Eine Beschwörung der elementaren Schönheit, die die Abwesenheit Gottes umstrahlt, sichtbar für alle, die nach ihm suchen.

Die Stille der Erinnerung

Vom Lärm des Glaubens geht es in den ersten Festivaltagen aber auch in die Stille der Erinnerung. Tiago Rodrigues, Leiter des portugiesischen Nationaltheaters, stellt im Hof des Karmeliterklosters eine einsame schwarze Gestalt auf die Bühne. „Sopro“ erzählt von den Erinnerungen einer Souffleuse, die in ein verlassenes Theater hereinwehen wie der Wind der Provence. Gräser wachsen durch die Bühnenbretter, auf denen die Souffleuse noch einmal Figuren aus Stücken auftreten lässt, die sich in ihre Erinnerung eingeschrieben haben.

Den Start in den Afrikafokus im diesjährigen Festivalprogramms schließlich bestreitet mit Dorothée Munyaneza eine Überlebende des ruandischen Völkermordes. Sie hat Frauen befragt, die vergewaltigt wurden und Kinder zur Welt brachten, die mit dem Trauma leben müssen, dass ihr Leben mit einer grausamen Gewalttat verknüpft ist. In dem Stück „Unwanted“, das im August im Berliner HAU zu sehen sein wird, sucht Munyaneza zusammen mit der amerikanischen Sängerin Holland Andrews nach Figuren der Bewältigung einer traumatisierten Mutter-Tochter-Beziehung. Das ist ein reines Theater der Stimme, der Körper, der Bilder und einer der intensivsten Momente bei diesem Festivalauftakt.

Das Festival läuft noch bis zum 26 Juli. Weitere Infos: www.festival-avignon.com

Eberhard Spreng

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