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Rettung für Sinnsucher. Szene aus „Orlando ou l’Impatience“ von Festivalleiter Oliver Py.
© Christophe RAYNAUD DE LAGE

Festival d’Avignon: Rückkehr ins Wunderland

Ein Shakespeare mit gewaltiger Sogwirkung. Orlando auf der Suche nach Gott. Und ein Theater, das wieder an die Kraft seiner Erzählungen glaubt: Bilanz des Festivals von Avignon.

Eine in barockes Schwarz gekleidete Dame steht vor dunklem Vorhang, lächelt verschmitzt ins Publikum, lobt mit dem Charme einer Märchentante die Ausdauer der Zuschauer. Schnell hat die junge Ausnahmeschauspielerin Manon Thorel das Publikum erobert. Vor jedem ihrer kurzen Interludien brandete ihr schon der Applaus entgegen. Nach neun von 18 Stunden war ein kleines Wunder geschehen: Ganz schnell waren die Zuschauer süchtig geworden nach dieser furios verkörperten Theaterreise ins Herz der Finsternis: „Heinrich VI“, Shakespeares gewaltiges, 15-aktiges Werk über einen glücklosen König und den Krieg der Rosen, wurde zum Herzstück des Festivals. Vier Jahre hatte der junge Regisseur Thomas Jolly an der Produktion gearbeitet, die in Avignon erstmalig in voller Länge zu sehen war.

Anders als bisherige Theatermarathons in der südfranzösischen Stadt, die nach durchwachter Nacht im Morgenlicht endeten, ist hier im Konflikt von Lancaster und York um die englische Krone eine Höllenreise zu erleben, die im Licht des Tages beginnt und in finsterer Nacht endet. Im Eingangsbild ist dies schon eingefangen: Da ahnt man im Rauch ein fahles Licht, das aus einer Aussparung im Boden schimmert. Es entpuppt sich als simple Glühbirne, die bald in dem schwarzen Bühnenhimmel entschwindet. Was da entschwebt, muss die Seele des frisch verstorbenen Heinrich des Fünften sein und mit ihr das Glück Englands.

Heinrich VI: Ein Spiel mit klarer prägnanter Figurenzeichnung

Thomas Jolly ist ein Meister einfacher, aber wirkungsvoller Bildfindungen. Sein ungemein engagiertes, zum Letzten entschlossenes Ensemble spielt mit großer, unverstellter Pose. Völlig ohne Mikrofonunterstützung bringt es die 10 000 Verse der Dramenfolge zu Gehör, immer im Dienste der von 1422 bis 1461 reichenden Chronik. Das entfaltete eine gewaltige Sogwirkung in einem Spiel mit wenig psychologischer Fundierung und klarer prägnanter Figurenzeichnung: hochmütig und hinterhältig der durchaus komisch angelegte Kardinal Winchester (Bruno Bayeux), Jeanne d’Arc (Flora Diguet) als moderne Amazone mit knallblauen Harren, ein grimmig-verbissener Richard Plantagenet in der Verkörperung von Éric Challier.

Die Titelfigur selbst ist im Spiel von Thomas Germaine blass introvertiert: ein frömmelnder Mann ohne Autorität, der den Streit bei Hofe allenfalls durch blutleere Appelle zu schlichten sucht. Die fröhlichen Momente weichen einer wachsenden Verzweiflung: Rote Lichtkegel fluten die finstere Bühne. Jeder scheint hier knietief im Blut zu waten. Jolly, der die Chronik als Schnittpunkt von Mittelalter und Neuzeit, als Umschlag im Wertesystem sieht, will keinen Videoschnickschnack. Er erzählt seine Mordchronik mit brillanten Akteuren, opulenten Musikeinspielungen, zahllosen komödiantischen Findungen und vollem Vertrauen in die unverbrüchliche Wirkungsmacht traditionellen Volkstheaters. Der Erfolg gibt ihm recht: Das Publikum ist bereit, wider besseres postmodernes Wissen ins kindliche Wunderland des Theaterzaubers zurückzukehren. Dieser „Heinrich VI“ ist ein Triumph eines Theaters, das allen Fernsehserien, Videospielen, Kinofilmen zum Trotz den Glauben an seine Kraft der Erzählung nicht aufgegeben hat.

Oliver Py zeigt klugen Umgang mit den streikenden Bühnenarbeitern

So einen Erfolg brauchte das erste von Olivier Py geleitete Festival d’Avignon dringend. Denn zu diesem Zeitpunkt war längst klar, dass das Konzept des mit Vorschusslorbeeren gesegneten neuen Leiters nur in Ansätzen aufgegangen war. Die Abkehr von Performance, Technik und Dokumentartheater zugunsten von Text, Poesie und Tradition hatte ästhetisch bis dahin nicht ganz überzeugt. Andererseits war auch die Abwendung weg von den mitteleuropäischen zu eher mediterranen Ansätzen inhaltlich nicht aufgegangen. Vieles war wenig durchdacht, einiges ein regelrechter Flop.

Was Oliver Py allerdings gelang, war ein kluges Management im Umgang mit den Bühnentechnikern- und künstlern unter Zeitverträgen, denen eine Verschärfung der Arbeitslosenregelung droht und die das Festival komplett hätten bestreiken können. Zwei Streiktage haben ihnen genügt, um ein Zeichen gegenüber der Regierung zu setzen. Auch hat die Drohung Wirkung gezeigt, jede Aufführung sofort so lange zu unterbrechen, bis ein im Publikum eventuell anwesender Minister den Saal verlassen hat. Auch Kulturministerin Aurélie Filippetti musste sich dem Diktat beugen und dem Theater fernbleiben. „Nur“ zwei Streiktage, ein beherrschbarer finanzieller Verlust, das ist für Olivier Py in der gegenwärtigen französischen Situation schon ein großer Erfolg.

Pathos, Spielfreude und Spielwut.

Mit dem eigenen Stück „Orlando ou l’Impatience“ wollte er ein programmatisches Bekenntnis zur Universalkunst Theater an den Beginn seiner Amtszeit setzten: „Das Nichts ist der Ort des Göttlichen“, oder „Ich will ein Theater, das die Existenz Gottes beweist“, oder „Es reicht schon, aufzutreten – und die Welt ist ein andere“ ist da zu hören. Pys „Orlando ou l’Impatience“ erzählt von dem Sohn, der seine Mutter, eine Theaterdiva, unentwegt nach der Identität seines Vaters fragt. Die Bühne wird von Podesten und fahrbaren Treppen gebildet, die von Szene zu Szene immer wieder um einen zentralen Spielplatz herum kombiniert werden. Dieser kreist um die eigene Achse, ein Wirbel, der auch die Figuren erfasst.

Oh-Mensch, Oh-Theater-Ekstase

Immer wieder präsentiert Py in seinem brillant verkörperten Stück mögliche Antworten auf die zentrale Frage des jungen Protagonisten und mit ihnen, quasi als Karikatur, diverse Formen von Theater. Schnell wird aber vor allem klar, dass sich hinter Orlandos Fragen nach dem Vater eigentlich die Gottsuche versteckt, die ungeduldig nach letzten Begründungen forscht. Die Antworten der diversen potenziellen Väter bleiben immer nur Stückwerk, aber allen ist gemein: Das Theater ist die einzige Perspektive für Sinnsucher. Pathos, Spielfreude und Spielwut, Bewegung, ein einziges gewaltiges Metapherngewitter bietet der Autor, Regisseur und Fundamentalkatholik auf. Aber nach dreieinhalb Stunden zerbröckelt das metaphysische Kabarett in Sprücheklopperei. Hohle Oh-Mensch-, Oh- Theater-Ekstase bleiben übrig. Dann wissen wir immerhin, dass Orlando nur noch im Verzicht, im Nichts, in der Mittellosigkeit eine Lebenschance entdeckt.

Einen „Tempel des menschlichen Geistes“ sollte Howard Roark in Ivo van Hoves ausladender Theaterfassung von Ayn Rands Roman „Fountainhead“ errichten, der in Deutschland unter den Titeln „Der ewige Quell“ und „Der Ursprung“ erschien und vor drei Jahren am Deutschen Theater unter dem Titel „Capitalista, Baby!“ schon einmal auf die Bühne kam. Hier lässt der flämische Regisseur in ausgefeiten Videoprojektionen die Welt eines genialischen, aber erfolglosen Architekten aufleuchten, der sich herrschenden Denkweisen nicht unterwirft und am Ende doch von einem zynischen Kapitalisten in seinem Künstlertum erkannt wird. Der Roman ist bis heute die Bibel der politischen Rechten in den USA. Sein unterschwelliges Genie-Übermensch-Geschmäckle wird Regisseur Ivo von Hove in seinem vierstündigen Gesamtkunstwerk nicht los. Wo das Festival mit Großtheatertaten weit in den Wertehimmel ausgreifen wollte, mit Fragen zu Moral und Ideal, konnte es letztlich nur zu Emphase und Verklärung beitragen.

Eberhard Spreng

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