zum Hauptinhalt
Der Pavillon des Gastlandes für die Buchmesse steht bereit.
© dpa/Boris Roessler

Gastland der Buchmesse: Neue Magie in Norwegens Literatur

Ein Besuch beim Osloer Autorenpaar Erik Fosnes Hansen und Erika Fatland zeigt, wie sich Norwegens Buchszene wandelt. Auch Jenseits des Trends zur Tristesse.

Oslo ist nicht Norwegen - diesen Satz hört man oft von norwegischen Schriftstellern und Schriftstellerinnen. Gern ist er verbunden mit ein paar bösen Worten oder gleich einer Schimpftirade auf die Hauptstadt des skandinavischen Landes. Über eine Million Menschen lebt hier inzwischen, knapp ein Fünftel der Gesamtbevölkerung Norwegens.

Und die Stadt boomt weiter. Sie ist eine der am schnellsten wachsenden Städte Europas. Dafür sind die vielen Baustellen im Zentrum genauso ein Indiz wie die immer wieder neuen Stadtteile, die um Oslo herum, aber auch zentrumsnah entstehen.

An Oslo hafte „etwas Dubioses“, schreibt Erik Fosnes Hansen in seinem Buch „Oslo. Eine literarische Stadterkundung“. Die Stadt wirke „in einem Land mit so viel Natur, das so dünn bevölkert ist“ wie „ein Anhängsel, eine unnatürliche Ansammlung von Häusern, Straßen, Trambahnen, Restaurants und nationalen Einrichtungen (und verglichen mit den alten Hauptstädten Bergen und Trondheim außerdem wie ein Emporkömmling).“

Das ändert nichts daran, dass ein sehr großer Teil der Literaturszene in Oslo ansässig ist. Die norwegische Literatur wurde in den letzten Jahrzehnten immer urbaner, die Natur spielt darin eine gar nicht mehr so große Rolle. Das kulturelle Leben Norwegens spielt sich vorwiegend hier ab, davon zeugen die neue Oper im Herzen der Stadt, daneben bald die neue Nationalbibliothek und nicht weit entfernt davon das neue Munch-Museum.

Dass das früher nicht anders war, bestätigt allein ein Rundgang über den hügelig-weiträumigen Friedhof Gravlund im Zentrum Oslos, wo sich die Gräber vieler prominenter Persönlichkeiten des Landes befinden. Neben Munch ist hier der wohl weltberühmteste Schriftsteller des Landes begraben, Henrik Ibsen. Oder der Volksdichter Henrik Wergeland, der selbst in Norwegen in Vergessenheit geratene Literaturnobelpreisträger von 1903, Bjørnstjerne Bjørnson, oder auch der Schriftsteller und Maler Christian Krohg.

Die Region hat ökonomisch einen riesigen Sprung gemacht

Natürlich ist Oslo auch Erik Fosnes Hansens Lebensmittelpunkt. Sein Vater war lange in der Reisebranche tätig, weshalb er 1965 in New York geboren wurde. Aufgewachsen aber ist er in Oslo, genauer: in Groruddalen, einer schmucklos-tristen Trabantenstadt im Osten der Stadt, wo auch viele seiner Kollegen und Kolleginnen herkommen, ob nun Per Petterson oder Roy Jacobsen, ob Jan Kjærstad oder Jostein Gaarder, aber auch jüngere wie Linn Strømsted, Maria Navarro Skaranger, Maria Kjos Fonn oder Zeshan Shakar.

Als „Tal der Dichter“ werde das Viertel gern bezeichnet, schreibt Fosnes Hansen in seinem Oslo-Buch; im Gespräch wird er als einen Grund dafür angeben, dass man in dem Viertel, in dem mehr als 120.000 Menschen leben, nichts anderes tun konnte und kann als entweder zu lesen und zu schreiben, Eishockey zu spielen oder Drogen zu dealen: „Hier gibt es keine Kultureinrichtungen, kaum Museen, keine schöne Natur, nicht mal ein vernünftiges Restaurant.“

Erik Fosnes Hansen verließ Oslo längere Zeit nur für ein Studium unter anderem zwei Jahre in Stuttgart, weshalb er gut Deutsch spricht. Mit seiner Ehefrau, der aus Westnorwegen stammenden, 1983 geborenen Schriftstellerin Erika Fatland, wohnt er unweit des Schlosses der norwegischen Königsfamilie in einem gutbürgerlichen Gründerzeitbau in einer ruhigen, von Bäumen umsäumten Straße, der Oscars Gate. Hier beginnt der Westen der Stadt, der wie eine Mischung aus Dahlem und Prenzlauer Berg anmutet und nichts von der quirligen Hipness von beispielsweise Grünerløkka hat, einem einstigen Arbeiterviertel in Oslos Zentrum, das zunehmend gentrifiziert wird.

„Es gibt in Deutschland immer die Vorstellung von einem magischen Norden hier bei uns. Ich finde den Schwarzwald viel magischer.“, sagt Fosnes Hansen gleich zur Begrüßung, angesprochen auf die großbürgerliche Umgebung „Hier in Norwegen leben die Leute in rotgestrichenen Holzhäusern mit weißen Fenstern, wie in einem Astrid-Lindgren-Buch, das ist die Vorstellung immer. Die gibt es, diese Häuser, aber es ist ein Klischee, gerade das einer Gesellschaft, die in den letzten Jahrzehnten ökonomisch einen riesigen Sprung gemacht hat.“

Ein feines Gespür für Stimmungen

Fosnes Hansen und Fatland sind zwei höchst unterschiedliche Autoren. Er ist ein Geschichtenerzähler alter Schule, der in den neunziger Jahren mit seinem Roman über die Titanic und ihr Orchester, „Choral am Ende der Nacht“, und dem Nachfolger „Momente der Geborgenheit“ bekannt und zum Bestsellerautor wurde.

Auf Deutsch ist von ihm gerade der in Norwegen 2016 veröffentlichte Roman „Ein Hummerleben“ erschienen. Der handelt vom Niedergangs eines Hotels irgendwo in den norwegischen Bergen in den achtziger Jahren. „Ein Hummerleben“ mag etwas gemächlich erzählt sein; dennoch hat Fosnes Hansen ein feines Gespür für Stimmungen und Settings, zu schweigen von einem grandiosen Finale in Form eines Totentanzes: Eine Gruppe Beerdigungsunternehmer bucht das alte Hotel für seine Weihnachtsfeier und nimmt es dann auseinander.

Obwohl vorwiegend in den Bergen angesiedelt, spielt Oslo ebenfalls eine Rolle. Der junge Held und sein Großvater wohnen im Grand Hotel an der Karl Johans Gate, Oslos Vorzeigestraße, lassen sich hier beim heute noch existierenden Herrenausstatter Ferner Jacobsen einkleiden und speisen „nach dem Beispiel Henrik Ibsens, der jeden Tag im Café des Grand Hotels ein Smørrebrød mit Krabben und eine Napoleonschnitte zu verzehren pflegte“.

Erfahrungen mit Russland

Erika Fatland dagegen schreibt Sachbücher und ist 2014 international bekannt geworden mit ihrem Buch „Sowjetistan“, dem Bericht einer Reise durch die einstigen Sowjetrepubliken Turkmenistan, Kirgisistan, Kasachstan, Tadschikistan und Usbekistan. Ein paar Jahre später machte sie sich erneut auf den Weg gen Osten, an den Grenzen Russlands entlang. Sie besuchte die Nachbarländer, darunter Nordkorea, das nur auf 19 Kilometer an Putins Reich grenzt (Russlands Grenze beträgt knapp 61.000 Kilometer, der Erdumfang liegt bei etwas über 40.000 Kilometer).

Erika Fatland bei der Leipziger Buchmesse 2013.
Die norwegische Schriftstellerin Erika Fatland hielt die Eröffnungsrede zum Start der Frankfurter Buchmesse. Hier ein Foto von 2013.
© dpa/Marc Tirl

In ihrem Buch „Die Grenze“ erzählt Fatland von ihren Erfahrungen in den vielen Ländern im Einzugsbereich Russlands. Es ist aber nicht nur Reiselust, die sie antreibt: „Ich war vor vielen Jahren in Guatemala, das sehr weit von Norwegen weg ist und wo doch der american way of life herrscht. Kurz darauf besuchte ich das viel nähere St. Petersburg. Und das war eine Welt, die mich sofort begeisterte, in ihrer Andersartigkeit, auch ihrer Härte.“

Fatland schrieb über das Breivik-Attentat

Fatland, die gerade auch in den Ländern des Himalaya-Gebirges war (worüber sie, natürlich, ein Buch schreiben wird), erzählt, dass sie seit ihrem 16. Lebensjahr unterwegs sei, beginnend mit dem Besuch eines Gymnasiums in Frankreich. Die Rückkehr in ihre Heimat habe ihr einen „ersten kulturellen Schock“ beschert, von wegen der unterschiedlichen Mentalität, sie später aber auch inspiriert. Ausgebildet worden ist Fatland als Sozialanthropologin. Ihre Magisterarbeit, die unter dem Titel „Ort der Engel“ als Sachbuch erschien, schrieb sie über die Nachwirkungen des Terrorangriffs auf eine Schule in Beslan in Nord-Osseten, bei dem 331 Menschen starben, vor allem Kinder.

Mit „Die Tage danach - Erzählungen aus „Utøya“ erschien einige Jahre darauf ein Buch von Fatland über die traumatischen Folgen des Breivik-Attentats. Einen Zusammenhang mit ihrer Arbeit in Beslan schließt sie nicht aus: „Könnte sowas in Norwegen passieren, haben mich in Schulen Kinder gefragt, wenn ich von meiner Arbeit in Beslan erzählte. Nein, der Kaukasus ist so unruhig, das ist was völlig anderes - ich habe das immer verneint. Nach Utøya lag es schon nahe, mich damit auch zu beschäftigen.“

Fatland und Fosnes Hansen wirken sehr ausgeglichen, wie sie bei sich zuhause auf dem Sofa sitzen, neben einem riesigen Bücherregal; Fatland in heller Bluse, Jeans und Schuhen, einem Outfit, das sie auf ihrer Himalaya-Reise erstanden haben muss, Fosnes Hansen leger in T-Shirt und Jogging-Hose, er hat gleich noch einen Termin bei seiner Physiotherapeutin. Natürlich haben sie Interesse daran, sich über ihre aktuellen Bücher, ihren Werdegang zu unterhalten; und doch schweifen sie gern ab, erörtern sie die zunehmende Migration genauso wie Fragen zu den verschiedenen literarischen Strömungen in ihrer Heimat.

[Erik Fosnes Hansen: Oslo. Eine literarische Stadterkundung. Aus dem Norwegischen von Ebba D. Drolshagen. Corso Verlag, Wiesbaden 2019. 224 S., 28 €. Erik Fosnes Hansen: Ein Hummerleben. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 384 Seiten, 24 €. Erika Fatland: Die Grenze. Aus dem Norwegischen von Ulrich Sonnenberg. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 623 Seiten, 20 €.]

Schwieriges Verhältnis zum Nobelpreisträger Hamsun

Zur vorherrschenden „Wirklichkeitsliteratur“, wie in Norwegen der Trend zur Autofiktion genannt wird, äußert sich Fosnes Hansen zurückhaltend. Er erklärt, dass es das immer gegeben habe, ein Ich-Autor wie Karl Ove Knausgård in einer langen Tradition stehe. Im 19. Jahrhundert sei da zum Beispiel Hans Henrik Jæger gewesen, mit dem Roman „Kranke Liebe“ und einer Trilogie über seine Beziehung zu der Malerin Oda Krohg. Oder Mitte der fünfziger Jahre Agnar Mykle mit einem als pornografisch verfemten, vermeintlich autobiografischen Roman, „Das Lied vom roten Rubin“. Oder Dag Solstad mit „16.07.41“, einem Roman, der 2002 veröffentlicht wurde, der Titel ist Solstads Geburtsdatum.

Auch um Knut Hamsun macht das Schriftstellerpaar keinen Bogen. Zu dem Literaturnobelpreisträger von 1920 haben die Norweger aufgrund von Hamsuns Hitler-Gefolgschaft (und auch der von seiner zweiten Frau und seinen Kindern) ein zwiegespaltenes Verhältnis: „Er ist fraglos der größte norwegische Schriftsteller aller Zeiten“, sagt Fosnes Hansen, „seine Bücher haben anders als die von Undset und Bjørnson die Zeit viel besser überstanden.“ Und ergänzt: „Es ist gefährlich Hamsun zu lesen, wenn man selber schreibt, weil sein Duktus, sein Stil, seine Wortwahl schleichen sich hinein in das eigene Schreiben. Er ist mindestens so groß wie Dostojewski“.

Was Erika Fatland bestätigt: „Die Russen sagen das auch“. Und Fosnes Hansen weiter: „Mein Vater erzählte immer, dass es der einer der traurigsten Tage seines Lebens war, als seine Mutter die gesammelten Werke von Hamsun im Zweiten Weltkrieg regelrecht aus den Regalen herausriss und in den Hinterhof warf.“

Man findet in Oslo oder anderen Städten keine Hamsun-Statuen, -Straßen oder-Plätze. Es gibt auch keinen Tag, an dem seiner gedacht wird. Fosnes Hansen und Fatland wissen um die Crux, politische Einstellung und Werk eines Schriftstellers nicht immer von einander trennen zu können. Was hatte es 2014 in Norwegen nicht für eine große Debatte gegeben, als Peter Handke den Ibsen-Preis erhielt!

Fosnes Hansen seufzt, als die Sprache noch einmal auf die zwei anderen Literaturnobelpreisträger Norwegens kommt, auf Bjørnstjerne Bjørnson und Sigrid Undset, „wir haben ja nur drei. Aber wissen Sie, wieviel die Schweden haben?“. Er weiß es nicht genau, „neun, zehn, elf“ (es sind acht) und erinnert daran, dass es schon 1974 einen riesigen Skandal in der Akademie gab. In dem Jahr hatte sie – wie jetzt wieder – zwei Literaturnobelpreise verliehen, „an zwei Schweden, an zwei ihrer eigenen Mitglieder!“ Da lachen er und Fatland, und dann erinnert sie ihn daran, dass er los müsse. Und er sagt noch, dass eine Frage nicht gestellt worden sei, die nach ihnen beiden als Schriftstellerpaar. Aber die Antwort, stimmt, verstehe sich ja von selbst: „Es ist echt schön.“

Zur Startseite