Dreimal Alpensinfonie: Mysterium Maestro
Drei Dirigenten und die „Alpensinfonie“: Andris Nelsons vollendet das Experiment mit den Berliner Philharmonikern.
So eine Chance bekommt man wahrscheinlich nicht zweimal im Leben: Drei Spitzendirigenten interpretieren an drei aufeinanderfolgenden Tagen dasselbe Werk am selben Ort unter identischen Bedingungen. Und der Zuhörer kann im direkten Vergleich dem Mysterium Maestro nachspüren.
Auch unter Klassikfreunden fragen sich viele, welche Aufgabe ein Dirigent eigentlich hat. Es geht nicht ums Taktschlagen, sondern um Inspiration, die Bündelung von Kräften. Lange vorbei sind die Zeiten, da Pultdiktatoren den Musikern ihren Willen aufgezwungen haben, heute handelt es sich um einen kollektiven Kreativprozess: darum, dass der vorne Agierende gemeinsam mit den Mitspielern einen künstlerischen Höhenflug ermöglicht.
Gustavo Dudamel, Christian Thielemann und Andris Nelsons haben das jetzt am Beispiel der „Alpensinfonie“ von Richard Strauss in der Philharmonie vorgeführt, aus Anlass von deren 100. Uraufführungsjubiläum. Ihre Partner hießen Staatskapelle Berlin, Dresdner Staatskapelle, Berliner Philharmoniker.
Drei Dirigenten - drei ganz unterschiedliche Aufführungen
Die „Alpensinfonie“ ist gerade deshalb so geeignet für dieses Experiment, weil die Interpretationsmöglichkeiten sehr begrenzt zu sein scheinen. Handelt es sich doch um Programmmusik, also um ein Werk, bei dem der Komponist genau vorgibt, welche Assoziationen er beim Publikum auslösen will. In diesem Fall den Weg eines Wanderers vom Morgengrauen bis zum Abend, mit Stationen „auf blumigen Wiesen“, am Wasserfall, auf der Alm und am Gletscher. Nach dem Rundumblick vom Gipfel zieht ein Gewitter auf, dann geht es schnell bergab und nach Haus.
Gustavo Dudamel hat das am Montag genau so nachgezeichnet. Naturburschenhaft ist er losgestapft, inmitten seiner befrackten Schar von Staatskapellen-Wandervögeln, und hat auch noch das Publikum mitgenommen, das bei dieser naiv- sinnlichen Exkursion via Kopfkino mitkraxeln und mitschwitzen konnte.
Christian Thielemann dagegen gab den Luis Trenker, den Anführer und souveränen Kenner des Terrains, dem die Dresdner geschlossen folgten, voll Bewunderung für seinen Orientierungssinn. Seine Interpretation hatte etwas sehr „Gearbeitetes“, Theoretisierendes, und ließ sich staunend als philosophische Abhandlung verfolgen, über die Selbsterfahrung des Menschen jenseits des zivilisatorisch geformten Geländes. Bei Dudamel wiederum herrschte mehr musikalische Spontaneität. Da spielten die Orchestersolisten freier, lustvoller, ohne Angst vor Fehltritten, die einen strengen Bergführer erzürnen könnten.
Und Andris Nelsons? Er findet am Mittwoch tatsächlich einen dritten Weg und bietet zudem die anspruchsvollste Programmgestaltung. Während die Konkurrenten in der ersten Konzerthälfte beide auf Wiener Klassik setzten, auf Schmankerl von Mozart und Haydn, wählt der lettische Dirigent den größtmöglichen Kontrast und setzt der nach außen gestülpten Virtuosität der „Alpensinfonie“ die radikale Innerlichkeit von Dmitri Schostakowitschs 1. Violinkonzert entgegen.
Baiba Skride ist die Solistin des Abends, und sie vermag im restlos ausverkauften Saal sofort maximale Konzentration herzustellen. Atemlos lauschen die Leute ihrem Klagegesang, um dann – als Übersprunghandlung – umso lauter in der Satzpause abzuhusten. Aber Baiba Skride holt sie wieder zurück und hält sie bis zum Schluss dicht an dieser Musik, die existenzielle Fragen berührt. Sie erzählt ebenso bewegend vom Ringen des politisch verfolgten Menschen um seine Würde, wie sie mit Lust die Fratzen des Unrechtsregimes ausstellt.
Die Berliner Philharmoniker sind einsame Spitze
In der „Alpensinfonie“ ist dann Andris Nelsons’ Metamorphose vom Dirigenten zum Medium zu erleben. Die Musik fließt durch jede Faser seines tanzenden Körpers, verströmt sich als Energie im Raum. So lässt er ein Klangwunder einfach geschehen: Der Hörer wähnt sich mitten in der Musik, das Sonnenlicht wird als physisches Phänomen spürbar, man meint, das Gras wachsen zu hören, die Rauheit der Felswände zu spüren und an der Wange von einem Windhauch gestreift zu werden.
Ein berauschendes, synästhetisches Erlebnis, das so nur funktionieren kann, weil die Berliner Philharmoniker eben doch eine Klasse für sich sind. Oder, alpin formuliert, einsame Spitze. Naturphänomenal, wie Nelsons die Ruhe vor dem Sturm auskostet – um ihn dann mit einer Urgewalt so übers Publikum hereinbrechen zu lassen, dass man unwillkürlich den Kopf einzieht und den Kragen hochklappt. „Das Wichtigste in der Musik“, wusste Richard Strauss’ Komponistenkollege Gustav Mahler, „steht nicht in den Noten.“