Dresdner Staatskapelle in Berlin: Höhere Weihe
Christian Thielemann dirigiert eine beeindruckende Alpensinfonie - und das Philharmonie-Publikum feiert den 91-jährigen Pianisten Menahem Pressler.
Dies ist ein Abend für Freunde von Zahlenspielereien: 476, 224, 100, 92, 86 lautet die geheime Ziffernfolge beim Berlin-Gastspiel der Dresdner Staatskapelle. 1548 wurde das Orchester gegründet, ungefähr halb so alt ist Mozarts Klavierkonzert KV 595. Vor einem Jahrhundert wurde die „Alpensinfonie“ uraufgeführt, der Pianist Menahem Pressler steht im 92. Lebensjahr und Witiko Adler, der Veranstalter, ist auch schon 86.
Die beiden letztgenannten Herren haben Richard Strauss also tatsächlich noch als Zeitgenossen erlebt. Dirigent Christian Thielemann (56) dagegen blieb nur die Partitur, um mit dem Komponisten in Dialog zu treten. Die aber hat er sich zu Herzen genommen. Mit absoluter Selbstsicherheit und einem an den Großwerken Wagners und Bruckners geschulten Weitblick disponiert er die 50-minütige Wanderung, als Bergführer, auf dessen Trittsicherheit Verlass ist. Als perfekt trainierte Truppe folgt ihm die Staatskapelle, virtuos und präzise in jeder Bewegung.
Thielemanns Zugriff hebt die „Alpensinfonie“ über das rein Tonmalerisch-Deskriptive heraus. Es geht hier hörbar um übergeordnete Dinge, um Ernstes und Erhabenes. Deutlich wird aber auch die Ambivalenz des Komponisten, der sich von Nietzsches kirchenkritischem „Antichrist“ inspiriert fühlte, musikalisch aber doch immer wieder in Bereiche religiöser Rhetorik gerät, mit weihevollen Chorälen und ekstatischen Visionen.
Eine eindrückliche Aufführung – und doch sorgt an diesem Dienstag ein anderer dafür, dass der Philharmonie-Abend etwas Ereignishaftes bekommt: Menahem Pressler, dem das Publikum mit standing ovations huldigt, in Anerkennung seiner einmaligen, über sechs Jahrzehnte währenden Musikerlaufbahn. Von Thielemann muss er zum Flügel geführt, auf dem eigens präparierten Stuhl dann in ideale Position gerückt werden. Um so erstaunlicher, wie flink dem alten Herren seine Finger noch folgen. Und doch bleibt die Wirkung seines Vortrags vor allem eine optische – blind gehört, würde sich wohl kaum jemand für diese Interpretation begeistern, die solipsistisch wirkt, arg gleichförmig, klangfarbenarm.
Thielemann ist seinem greisen Solisten sehr zugewandt, die Musiker dagegen gewähren keinen Seniorenrabatt. Auf Presslers gläsern-zartes Musizieren mögen sie sich nicht einlassen, spielen ihren Mozart lieber wie gewohnt, kraftvoll, mit klarem dynamischem Profil. So kommt der berührendste Moment erst bei der Zugabe. Wenn sich der Dirigent kurzerhand aufs Podium hockt, dem Pianisten zu Füßen wie ein Enkel seinem Lieblingsopa. Und nun, allein im Lichtkegel, macht Pressler seinen Ton plötzlich groß, auratisch: Als wolle er mit diesem Cis-Moll-Nocturne von Chopin das ganze Himmelszelt ausleuchten.