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Roberto Saviano (Mitte) mit Giovanni di Lorenzo und Angela Merkel bei der M100 Konferenz in Potsdam.
© AFP

M100 Media Award für Roberto Saviano: Mut und Herzblut im Kampf gegen die Mafia

Der Autor Roberto Saviano wurde mit dem M100 Media Award ausgezeichnet. Hier die Laudatio von „Zeit“-Chefredakteur und „Tagesspiegel“-Herausgeber Giovanni di Lorenzo in leicht gekürzter Fassung.

Ich möchte Ihnen eine kleine Geschichte erzählen. Eine Geschichte darüber, was es bedeutet, Roberto Saviano zu sein. Sie ist ein bisschen traurig, aber sie hat ein Happy End, so viel sei schon mal verraten.

Es war in der Toskana, im Sommer vor einem Jahr, ich hatte mich an einem besonders strahlenden Tag mit Roberto verabredet. Wir trafen uns in meinem Lieblingslokal am Strand, wo es die besten Spaghetti Vongole der Welt gibt, zum Mittagessen.

Eine Verabredung mit Roberto Saviano zieht einige Vorbereitung mit sich. In dem kleinen Lokal waren extra Sichtblenden aufgestellt worden, Savianos Leibwächter saßen nur ein paar Tische weiter, die Wirtin hatte von ihnen besondere Instruktionen bekommen. Nun ist ja hinlänglich bekannt, dass Roberto wegen der Todesdrohungen durch die Mafia unter Personenschutz steht – all diese Vorkehrungen überraschten mich also nicht.

Schwimmen und Eis essen - unmöglich für Saviano

Was mich stutzig machte, was mich traurig stimmte, war Robertos Antwort auf meine Frage, warum er denn nicht baden gehe, wenn er schon mal hier sei? Zwischen unserem Tisch und dem Meer lagen nur wenige Meter. Roberto schüttelte den Kopf. „Aber hör mal“, entgegnete ich ihm, „das kriegt doch kein Mafioso der Welt mit, wenn du hier einmal kurz ins Wasser springst!“ Es ging Roberto aber gar nicht um die Mafia, er hatte vor etwas anderem Angst: „Wenn ich jetzt baden gehe, macht nur irgendjemand ein Foto, wie ich durchs Wasser plansche, und morgen steht in der Zeitung: Der Antimafia-Held, dessen Leibwächter der Staat bezahlt, macht sich einen schönen Lenz.“

Aus demselben Grund fährt Roberto Saviano auch nicht mehr in die Stadt, um ein Eis zu essen. Das letzte Mal, als er das tat, wurde es postwendend in einer Zeitung erwähnt, mit einem genüsslichen Unterton, als habe man den Autor beim Diebstahl erwischt.

Es ist ja grauenhaft genug, dass Roberto Saviano seit zehn Jahren, seit dem Erscheinen seines Buches „Gomorrha“ über die neapolitanische Mafia, kaum einen Schritt ohne seine aufmerksamen Begleiter tun kann, dass er seinen Mut, die Bosse beim Namen genannt zu haben, mit einem Leben im Verborgenen bezahlen muss. Und das mitten in Europa. Aber dass er auch noch ganz anderen Angriffen ausgesetzt ist, dass er von manchen Politikern, anderen Prominenten, auch von Journalisten als regelrechtes Feindbild behandelt und benutzt wird – das empfinde ich als unerträglich.

Er braucht den Rückhalt derer, denen er die Augen öffnete

Da erklärte doch unlängst ein italienischer Senator, Roberto Saviano brauche den Polizeischutz nicht mehr, kein einziges Mitglied der Camorra wolle ihn umbringen, im Übrigen sei er ja mit seinem Buch reich geworden. Da gibt es einen Bürgermeister, der ihm unterstellte, nur die Probleme zu sehen und sie aufzubauschen. Und ein berühmt-berüchtigter Ministerpräsident warf ihm vor, Werbung für die Mafia zu machen. Italien ist ein Land, in dem der Ton in den Debatten dermaßen verroht ist, wie er es hoffentlich in Deutschland nie werden wird.

Es geht mir nicht darum, dass man Roberto Saviano, seine Bücher und Artikel nicht kritisieren dürfte – natürlich darf man das. Und es wäre gewiss nicht in seinem Sinne, ihn zu einem Helden zu stilisieren, der keine Fehler macht. Es geht mir darum, dass Saviano angewiesen ist auf den Rückhalt jener Gesellschaft, der er mit seiner Arbeit immer wieder die Augen geöffnet hat – dass aber manche ihre Augen lieber wieder schließen, sich wegdrehen, von alldem nichts wissen wollen.

Vielleicht sollte ich an dieser Stelle einmal aussprechen, dass ich in mehrfacher Hinsicht befangen bin. Roberto Saviano ist nicht nur ein Freund, er ist auch Autor der „Zeit“, und im Moment arbeite ich mit ihm zusammen an einem Erklärstück zum unendlich großen Rätsel Italien, aus dem vielleicht ein Buch wird. Aber ich stehe hier, weil ein Abend wie dieser dazu beiträgt, ihn in seiner Heimat wieder ein Stück sicherer zu machen. Es ist nämlich ein großartiges Zeichen der Solidarität, das er hier in Potsdam erlebt.

„Es wird Situationen geben“, sagte er einmal, „in denen ich angreifbarer sein werde, weil man mich weniger beachtet.“ Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit ist für ihn nicht nur schmeichelnde Geste. Sie ist eine Art Lebensversicherung.

Die Abgründe, die sich vor ihm auftaten, haben ihn auch fasziniert

Roberto Saviano (Mitte) mit Giovanni di Lorenzo und Angela Merkel bei der M100 Konferenz in Potsdam.
Roberto Saviano (Mitte) mit Giovanni di Lorenzo und Angela Merkel bei der M100 Konferenz in Potsdam.
© AFP

Man muss sich das einmal bewusst machen: Roberto Saviano hat seine eindrücklichen Erzählungen von einem für uns fremden Planeten – dem, wo die Camorra ihr Unwesen treibt – nicht mit der kühlen Distanz eines angereisten Reporters geschrieben, der nur so lange vor Ort bleibt wie nötig, sondern mit dem Herzblut eines jungen Mannes, dem Leid und Elend seiner Heimat nahegehen. Er ist in dem Sumpf groß geworden, den er in „Gomorrha“ beschreibt. Er hat in der Camorra-Hochburg Casal di Principe einen Teil seiner Kindheit verbracht. Er hat die Schießereien auf der Straße gehört, die Leichen mit eigenen Augen gesehen, er kannte die Kinder der Bosse von der Schule.

Er selbst gibt zu, dass die Abgründe, die sich vor ihm auftaten, ihn auch fasziniert haben – die Kompromisslosigkeit, mit der die Clans ihre Macht ausübten, die mythische Bereitschaft der Mitglieder, ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Aber er entschied sich für einen anderen Weg: Nach seinem Philosophie-Studium in Neapel, da war er noch keine 30 Jahre alt, schrieb er über das Schlachtfeld in seiner Heimat dieses Buch, das ein internationaler Bestseller werden sollte. Alles, was er in Zeitungen, Gerichtsprozessen, bei eigenen Recherchen aufgesogen hatte wie ein Schwamm, musste einmal raus, in die Welt.

Der Anti-Mafia-Kampf wird hier zum Überlebenskampf

Das erklärt vielleicht, warum vieles, was er schreibt, so unmittelbar ist, warum man aus manchen Zeilen eine große Wut heraushören kann. Das gilt zum Beispiel für diese Passage aus „Gomorrha“, die man auch als eine Art Credo verstehen kann, als Beschreibung für die Motivation, die ihn gegen Windmühlen kämpfen lässt: „Ich bin geboren im Land der Camorra, wo mehr Menschen ermordet werden als irgendwo sonst in Europa, wo Geschäftemacherei und brutale Gewalt unauflöslich miteinander verbunden sind und nur das einen Wert besitzt, was Macht verspricht“. In dieser Welt sei der Kampf gegen die Clans mehr als nur eine moralische Pflicht – vielmehr sei anders „kein menschenwürdiges Dasein möglich“. Der Anti-Mafia-Kampf wird hier zum Überlebenskampf, zur Voraussetzung für eine Existenz, die sich Leben nennen darf.

Immer wieder mischt sich Roberto Saviano ins Zeitgeschehen ein, veröffentlicht fulminante Essays und Kolumnen, die Italien aufrütteln. Und niemals schreibt er dabei irgendjemandem nach dem Mund, nie duckt er sich vor irgendwem weg. Das ist die eigentliche Aufgabe des Intellektuellen in einer freien, demokratischen Gesellschaft: an jenen Stellen ein Fragezeichen zu setzen, wo alle anderen dem Konformismus frönen. Ich weiß wohl, dass es bequemere Positionen gibt.

Das organisierte Verbrechen breitet sich auch bei uns aus

Roberto Saviano verschafft sich auch dadurch Gehör, dass er ein fantastischer Erzähler ist: einer, der zu erkennen vermag, dass sich in einer noch so kleinen Geschichte eine große Wahrheit verstecken kann. In seinem Buch über den internationalen Drogenhandel, "Zero Zero Zero", das vor drei Jahren erscheinen ist, gibt es eine Szene, die man nicht mehr vergisst. Saviano gibt das Transkript einer Rede wieder, die ihm ein amerikanischer Polizist zugespielt hat. Ein italienischer Mafia-Boss soll sie vor Klein- und Großkriminellen aus aller Welt gehalten haben; es ist eine Art Lektion in der Philosophie kriminellen Denkens. Gesetze, sagt dieser Mafiosi, seien etwas für Feiglinge. Wer in dieser Welt etwas zu sagen haben wolle, müsse sich an Regeln halten, die das Gesetz brechen – an die Regeln der organisierten Kriminalität.

Roberto Saviano erklärt uns nicht nur die Spielregeln der Mafia, die weit über die Clans hinaus Gültigkeit haben. Er beschreibt auch, wie das organisierte Verbrechen sich in Deutschland ausbreitet; seiner Meinung nach wird das Problem hier unterschätzt. Er macht uns in aller Klarheit deutlich, dass wir uns etwas vormachen, wenn wir glauben niemanden zu kennen, der Kokain konsumiert. Wieder und wieder zeigt er uns, dass uns die Welt der organisierten Kriminalität viel mehr betrifft, als wir wahrhaben wollen.

Was mich an dir, lieber Roberto, besonders beeindruckt, ist die Tatsache, dass du trotz all der gravierenden Probleme kein Moralist, vor allem kein Zyniker geworden bist. Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn Moralisten und Zyniker die Welt erklären – oder sie gar lenken.

Ein unverbesserlicher Utopist

Auch wenn du heute manchmal sagst, dass du es im Rückblick bereust, „Gomorrha“ geschrieben zu haben – und wer könnte das nicht verstehen, angesichts des Lebens, zu dem du seither gezwungen bist: In meinen Augen bist du ein unverbesserlicher Utopist geblieben. Einer, der nie aufhört, daran zu glauben, dass es uns gelingen kann, die Welt ein Stück besser zu machen, wenn wir nur wollen.

Zum Schluss also das Happy End am Meer: Plötzlich kam eine junge Frau an unseren Tisch, mit einem Baby auf dem Arm. Sie hatte uns erspäht, Roberto sofort erkannt, und ihre Augen strahlten. Sie wolle nicht stören, nur ganz kurz etwas loswerden – und zu Roberto gewandt fuhr sie fort: „Ich möchte einfach nur ,Danke’ sagen. Sie machen mir immer wieder Mut.“

Lassen Sie uns den Spieß einmal umdrehen, lassen Sie uns Roberto Saviano Mut machen! Zeigen wir ihm und all denjenigen, die unter Gefahr für Leib und Leben unangenehme Wahrheiten aussprechen, dass ihre Arbeit nicht umsonst ist.

In diesem Sinne kann ich mich nur der jungen Frau vom Strand anschließen: Grazie, Roberto!

Giovanni di Lorenzo

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