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Ein Ire, der in New York und Barcelona zu Hause ist: Colm Tóibín.
© picture alliance / dpa

Colm Tóibín bei Mosse-Lecture in Berlin: Das Läuten des Himmels

Musik, Roman und Religion: Der große irische Erzähler Colm Tóibín gibt in einer Berliner Mosse-Lecture einen Einblick in seine Schreibwerkstatt und in sein Denken.

Auf eine unwahrscheinliche Formel gebracht, müsste man über Colm Tóibíns Mosse-Lecture an der Humboldt-Universität wohl sagen: Grundthese falsch. Thema verfehlt. Was für ein wunderbarer Abend. Denn die Musik, die er als dem Roman wesensfremde Kunst zu beschreiben versuchte, spielt literarisch eine weitaus größere Rolle, als er wahrhaben will. Die spirituelle Erhebung der Seele, die er in den Mittelpunkt rückte, geht am zutiefst Materiellen vorbei, das der Herstellung von Tönen zugrunde liegt. Die Leidenschaft aber, mit der er in den Werken seiner Kronzeugen Edith Wharton, Thomas Mann, Ernest Hemingway, Henry James und James Joyce nach dem Punkt suchte, wo Prosaisches in Transzendentes umschlägt, hatte etwas so Mitreißendes, dass die theoretische Tragfähigkeit seiner Gedanken nebensächlich wurde.

„The Silence Between – Music and the Novel“ war die Selbstvergewisserung eines großen Erzählers, der sich mit „Marias Testament“, seinem jüngsten auf Deutsch erschienenen Roman, erst in biblisch-religiöse Dimensionen hineinschrieb, und jetzt mit „Nora Webster“, dem nach äußeren Maßstäben fast ereignislosen Porträt einer Witwe im Irland der späten 1960er Jahre, das deutsche Kunstlied und Beethovens Erzherzogtrio mit Jacqueline du Pré am Cello als Kraftzentrum eroberte.

Colm Tóibín: ein musikalischer Schwärmer

Der 1955 im südostirischen Enniscorthy geborene und an der Columbia University lehrende Tóibín trägt alle Züge eines musikalischen Schwärmers, der sich sonntagnachmittags um fünf zusammen mit Philip Roth regelmäßig zu den Kammerkonzerten in der Alice Tully Hall des New Yorker Lincoln Center einfindet. Im Unterschied zu seinem eigenen Handwerk kommt ihm das dort Gebotene offenbar sehr viel geheimnisvoller vor, wobei sich in das Staunen des Laien die Erinnerung an seine Mutter mischt, die von den wöchentlichen Treffen der Grammophone Society beglückt nach Hause zurückkehrte. Sie war ein entscheidendes Vorbild für die Figur der Nora Webster.

„Die Form des Romans versteht sich auf alles Körperliche, dessen Gelüste und irdische Bedürfnisse“, glaubt Tóibín, „sie behandelt die Seele nur indirekt.“ Die Poesie, da hat er sicher recht, lebt dagegen geradezu von musikalischen Prozessen und dem, was sie im menschlichen Bewusstsein auslösen. Doch die Fähigkeit des Romans, sich so ziemlich vom Kochrezept bis zur entsemantisierten Buchstabenfolge als Stoff und Klanggestalt einzuverleiben, darf man nicht unterschätzen. Das gilt auch für die Musik.

Der Roman absorbiert die kulturelle Referenz auf bestehende Werke nicht weniger als die Erfindung von neuen. Wenn Charles Gounods Oper „Faust“, die Tóibín sowohl in Edith Whartons „Zeit der Unschuld“ wie in Thomas Manns „Zauberberg“ entdeckt, nicht von ferne in den Ohren des Lesers klingt, ist ihre Wirkung als emotionaler Brandbeschleuniger so eingeschränkt wie bei jemandem, der Haruki Murakamis Romane in völliger Unkenntnis von Jazzstandards lesen wollte, oder Nick Hornbys „High Fidelity", ohne jemals Neil Young oder die Smiths gehört zu haben. Und gibt es einen unheimlicheren, seine imaginäre Musik ganz aus Sprache schöpfenden Seelenroman als Thomas Manns „Doktor Faustus“, der die Tonsetzerkunst seines Protagonisten Adrian Leverkühn mit der Erfindung der Zwölftonmusik krönt? Tóibín erwähnte ihn nur im Vorübergehen.

Tóibíns Neigung, Musik und Religion als Synonyme zu verwenden

Von Julio Cortázars „Rayuela“ über Thomas Bernhards „Untergeher“ bis zu Richard Powers’ „Gold Bug Variations“ herrscht auch sonst kein Mangel an prominenten Büchern, die den Eigensinn von Musik im Narrativen feiern. Keine Theorie käme indes ohne die Violinsonate des fiktiven Komponisten Vinteuil in Marcel Prousts „Recherche“ aus. Im Philosophischen von Schopenhauer inspiriert, im Praktischen von César Franck, ist sie die sachkundigste Apotheose einer Kunst, die vielleicht tatsächlich höher steht als die der Worte.

Tóibíns Neigung, Musik und Religion als Synonyme zu verwenden, tut dabei den zweiten Schritt vor dem ersten. Denn der Roman ist bei weitem nicht so gefeit gegen „Wunder und göttliche Einmischung zugunsten von Wahlmöglichkeiten und Gelegenheiten, die rein menschlich sind“, wie er meint. Er selbst führt Georges Bernanos, Graham Greene und Marilynne Robinson als erzählerische Stimmen an, die sich direkt mit Religion beschäftigen. Ihm selbst, wie seinem katholischen Meister Henry James, liegt eher das Indirekte. Musik dabei als metaphysischen Hebel anzusetzen, der das Innerweltliche einen Spaltbreit öffnet, ist der Preis, der ihm als säkularen Menschen gerade noch erschwinglich scheint.

Gregor Dotzauer

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