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Colm Tóibín: Irische Familienangelegenheiten

Colm Tóibíns "Mütter und Söhne“: Neuerdings werden Erzählungsbände, deren Geschichten durch wiederholt auftauchende Figuren lose miteinander verbunden sind, gern als Romane bezeichnet. Wegen der Verkäuflichkeit. Eher selten ist es umgekehrt.

Ein Erzählungsband will nicht mehr als ein Erzählungsband sein und ist doch so episch, so landschafts- und gesellschaftsgesättigt wie ein Roman. „Mütter und Söhne“ des Iren Colm Tóibín ist solch ein beglückender Fall. Tóibín, 1955 geboren, wurde mit seinem hinreißenden Henry-James-Roman „Porträt des Meisters in mittleren Jahren“ bekannt, und in seinem ersten Erzählungsband geht es, wie der Titel andeutet, um Familien. Der Clou dabei ist, dass die Bindung zwischen Mutter und Kind bei Tóibín eine ziemlich lose Angelegenheit ist, zumindest auf der wortkargen Handlungsoberfläche der Geschichten.

Der andere Clou: Es gibt keine Clous. Keine Pointen, keine eleganten Volten und raffinierten Wendungen, kurz gesagt keine Short-Story-Effekte. Stattdessen geht eine selbstgewisse Gemächlichkeit von den Geschichten aus, die fast alle in Irland spielen, im Dorf- oder Kleinstadtmilieu. Das einschneidende Ereignis liegt meist im Rücken der Handlung, und Tóibín beschreibt mit aller Ruhe, welche Kreise dieses Ereignis zieht, wie es der Welt die Vertrautheit wie eine Farbe entzieht und die Figuren bei aller äußeren Geschäftigkeit innerlich entleert.

„Mutter und Söhne“, das heißt bei Tóibín meist, dass nicht die Söhne, sondern die Mütter gehen. Entweder durch Tod, wie in der Erzählung „Drei Freunde“, in der die männliche Hauptfigur am Tag nach der Mutterbeerdigung sich während eines Rave mit Alkohol, Drogen und Sex tröstet. Oder schon zu Lebzeiten: In „Ein Lied“ bemerkt ein junger Mann in einem Pub zufällig seine Mutter, eine bekannte Folksängerin, die ihn und seinen Vater vor fast 20 Jahren verlassen hat. Er sieht sie an, hört sie wunderschön singen und geht dann, ohne ein Wort mit ihr gewechselt zu haben, hinaus, um im Auto darauf zu warten, dass seine Kumpels endlich kommen. Über seinen Gefühlszustand wird kein Wort verloren – doch die achselzuckende Trauer über die Unfähigkeit, die Entfernung zu überwinden, ist mit Händen zu greifen. „Die Abwesenheit“ könnte das Buch auch heißen.

In der autobiografischen Erzählung „Eins minus eins“ beschreibt Tóibín eine Urerfahrung des Verlassenseins, die auch ein Licht auf die fatalistische Unterströmung der anderen Texte wirft. Als er zehn war, musste sein Vater ins Krankenhaus, und er und sein jüngerer Bruder wurden von der Mutter bei seiner „zerstreuten Tante“ untergebracht. Nie rief ihre Mutter an, um sich nach ihnen zu erkundigen. Eigentlich, schreibt er, sei in den Monaten nichts Dramatisches passiert. Es herrschte im Haus der Tante nur eine routinierte Lieblosigkeit, und das Desinteresse der eigenen Mutter machte sie zu einer Fremden. „Mein Bruder und ich lernten, niemandem zu vertrauen. Dann lernten wir, nicht über Dinge zu reden, die uns etwas bedeuteten.“

Die Erzählung verrät zwar vieles über Tóibíns Schreiben – wahrscheinlich deswegen ist sie aber eine der schwächeren, weil sie explizit ausspricht, was bei den anderen unter der Oberfläche bleibt. Tóibín psychologisiert zwar auch sonst, aber nur dezent, gewissermaßen nur auf der Ebene der Alltagsbewältigung, während die einschneidenden Taten von so einer Wucht sind, dass sie wie Naturereignisse nur hingenommen oder höchstens staunend angestarrt werden können.

„Ein langer Winter“ heißt die schrecklich-schöne Meistererzählung, die über fast 80 Seiten hinweg den20-jährigen Miquel in immer tiefere Schmerz- und Ohnmachtsregionen über das Fehlen zweier geliebter Personen stößt. Als einzige spielt sie nicht in Irland, sondern in einem katalanischen Bergdorf, in dem Tóibín die Unergründlichkeit des Menschen bezwingend mit der Archaik einer scheinbar mittelalterlichen Dorfgemeinschaft und der Härte des Winters verknüpft.

Miquels jüngerer Bruder musste zum Militär, und der ältere, der mit ihm ein Zimmer teilt, kann ohne den gewohnten Atem des Abwesenden kaum einschlafen. Nach einem Streit zwischen den Eltern geht auch die Mutter weg, zu Fuß, kurz bevor der Schnee kommt und das Dorf schnell vom Rest der Welt abschneidet. Jede Suchaktion muss abgebrochen werden. Vater und Sohn können nichts anderes tun, als auf den Frühling zu warten, um dann nach Geiern Ausschau zu halten. Unter dem Druck der Ungewissheit verrohen die beiden, löst sich das, was die Familie zusammengehalten hat, in nichts auf. Die Natur holt sich ihr Terrain zurück, was Tóibín indirekt zeigt, indem er die Verwahrlosungsstadien der Wohnräume nachzeichnet. Dann tauchen die Geier am Himmel auf, und die beiden greifen nach den Gewehren.

Colm Tóibín:

Mütter und Söhne.

Erzählungen.

Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini.

Carl Hanser Verlag, München 2009.

246 Seiten, 19,90 €.

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