Das Programm im Überblick: Musik aus der Mitte Europas
Mit Leos Janáček, Bela Bartók und Witold Lutosławski stehen beim "Musikfest Berlin" drei osteuropäische Komponisten im Mittelpunkt. Zu ihren Lebzeiten aber lagen ihre Heimatländer in der Mitte Europas, auch geistig.
Vom 30. August bis 18. September 2013 startet das Berliner Konzertleben mit dem Musikfest Berlin in die neue Spielzeit 2013/14, veranstaltet von den Berliner Festspielen in Kooperation mit der Stiftung Berliner Philharmoniker. An 20 Tagen werden in der Philharmonie, in deren Kammermusiksaal und im Konzerthaus Berlin 24 Veranstaltungen mit 64 Werken von 25 Komponisten präsentiert, aufgeführt von 20 Orchestern, Chören, Instrumentalensembles und 25 Solisten aus dem internationalen Musikleben.
„You don’t have to call it music, if the term shocks you“ pflegte John Cage, der große amerikanische Komponist (dem das Musikfest Berlin im vergangenen Jahr gewidmet war) jenen Konzertgängern zu entgegnen, die auf die Klänge seiner Musik ungehalten und ablehnend reagierten. Mitunter scheint das Wort und die Vorstellung, die mit ihm verbunden ist, die Wahrnehmung zu blockieren. Auch Elias Canetti zweifelte an der Brauchbarkeit der universalen Benennung „Musik“ und fragte sich, „ob es nicht auch andere Worte für Musik geben sollte. Ob nicht die hoffnungslose Verstocktheit der Wiener allem Neuen gegenüber damit zusammenhänge, dass sie mit ihrer Vorstellung von diesem Wort vollkommen eins geworden waren, so sehr, dass sie nichts zu dulden vermöchten, das den Inhalt dieses Wortes für sie verändere. Vielleicht, wenn es anders hieße, wären sie eher bereit, sich daran zu gewöhnen.“ So durchfuhr es auch Canetti, als er erstmals das tschechische Wort für Musik hörte: „hudba“. Es erschien ihm ungleich geladener, weckte Erinnerungen, eröffnete neue Horizonte: „Das war das Wort für Strawinskys ‚Les Noces’, für Bartók, für Janáček, für vieles andere.“
"hubda" - Neue Töne und Klänge
„Hudba“ wurde für Canetti zu einem poetischen Wort, das die Wahrnehmung öffnete, inspirierte und die Vorstellung davon, was Musik alles sein kann, um neue Gestalten bereicherte. Man würde heute von einem gelungenen – und künstlerischen – Akt der „Vermittlung“ sprechen: Das Wort „Hudba“ eröffnete die Sensibilisierung und Gewöhnung, die neue Töne und Klänge brauchen, um schließlich doch als Musik nicht nur akzeptiert, sondern auch geschätzt und selbstverständlich zu werden.
Die Musik von Bartók, Janáček, Strawinsky war schon Teil des öffentlichen Konzertlebens, da haderte allerdings die Theorie noch mit deren „Legitimität“: Was da zu hören war, schien – trotz allen Erfolgs bei den Musikern und Hörern – irgendwie „exterritorial“ zum so genannten klassisch-romantischen Repertoire, dem Inbegriff der abendländischen Kunstmusik. „Wo die Entwicklungstendenz der okzidentalen Musik nicht rein sich durchgesetzt hat“, so schrieb Theodor W. Adorno 1948, „wie in manchen agrarischen Gebieten Südosteuropas, ließ bis in die jüngste Vergangenheit tonales Material ohne Schande noch sich verwenden." Es ist an die exterritoriale, aber in ihrer Konsequenz großartige Kunst Janáčeks zu denken und auch an vieles von Bartók, der freilich bei aller folkloristischen Neigung zugleich zur fortgeschrittensten europäischen Kunstmusik zählte. Die Legitimation solcher Musik am Rande liegt allemal darin, dass sie einen in sich stimmigen und selektiven technischen Kanon ausbildet.“
Zum 100. Geburtstag von Witold Lutosławski und Benjamin Britten
Die Musikwelt gedenkt in diesem Jahr des 100. Geburtstages von Witold Lutosławski, und er ist auch Anlass für das Musikfest Berlin, sich dem musikalische Oeuvre derjenigen Komponisten zu widmen, die dem mitteleuropäischen Raum entstammen: aus Polen wie Lutosławski, aus Ungarn wie Béla Bartók und aus Tschechien wie Leoš Janáček. Janáček verband mit Bartók das Interesse an der Volksmusikforschung. Und die Musik Bartóks war für Lutosławski der zunächst wichtigste Bezug seines Komponierens. Er gedachte seines ungarischen Kollegen mit der „Musique funèbre“ und schrieb wie dieser auch ein fulminantes „Konzert für Orchester“, das den Vergleich mit dem Vorbild nicht zu scheuen braucht. Zugleich hat sich seine Musik mehr und mehr von der französischen Kunstmusik und Literatur inspirieren lassen. Das Programm des Musikfest Berlin enthält eine Auswahl seiner wichtigsten Orchesterwerke, ebenso diejenigen von Béla Bartók und Leoš Janáček, einschließlich der „Glagolitischen Messe“ und des selten aufgeführten Fragments des Violinkonzertes „Wanderung einer kleinen Seele.“
Auch Benjamin Brittens Geburtstag jährt sich dieses Jahr zum hundertsten Mal. Seine Musik ist auf den Programmen der Veranstalter des kontinentalen Europas, abgesehen von einigen Ausnahmen, heute immer noch kaum zu finden. Das Musikfest Berlin präsentiert seine Musik im Kontext der späten Symphonien Dmitri Schostakowitschs, mit dem er als Komponist freundschaftlich verbunden war. Neben den Orchesterkonzerten findet sich im Rahmen des diesjährigen Musikfest Berlin auch ein Streichquartett-Zyklus mit drei Veranstaltungen, in denen alle sechs Bartók Quartette zur Aufführung kommen, außerdem Janáčeks zweites Streichquartett „Intime Briefe“ in der originalen Fassung mit der Viola d’amore. Das Musikfest Berlin schließt kammermusikalisch: Mit einem Abend für Violine solo mit Caroline Widmann und einem IPPNW Benefizkonzert zugunsten des Human Rights Watch mit András Schiff und Hanno Müller-Brachmann.
Strawinksys "Les Noces" neu gehört
„Hudba” – das Wort verband Elias Canetti insbesondere mit „Les Noces“ von Igor Strawinsky, und diese Verbindung wurde Überschrift des betreffenden Kapitels seiner autobiographischen Schrift „Das Augenspiel“: „Hudba. Bauern tanzend“. Zeitweilig dachte Strawinsky daran, für die Musik der „Bauernhochzeit“ neben Gesangsstimmen und Schlagzeug auch Maschinen, mechanische Klaviere, Pianolas einzusetzen: „vollkommen homogen, vollkommen unpersönlich und vollkommen mechanisch“ sollte der Klang sein. Die ersten beiden Bilder arbeitete er für diese Besetzung aus, doch dann ließ ihn die unzureichende Mechanik der Pleyel Instrumente und die Einwände Sergej Diaghilews von seinen Plänen absehen. Theo Verbey hat Strawinskys damals schon weitgediehene Pläne 2007 zu Ende geführt. Beim Musikfest Berlin wird diese Fassung von „Les Noces“ für Solisten, Chor, Harmonium, Schlagzeug, Cymbaloms und live gespielter Pianola erstmals der Öffentlichkeit präsentiert, aufgeführt vom Rias Kammerchor und dem Ensemble musikFabrik unter der Leitung von James Wood.
Winrich Hopp