Christoph Marthalers Liederabend an der Volksbühne: Murx den Schlager!
Von Shakespeare bis Helene Fischer: Christoph Marthalers Liederabend „Tessa Blomstedt gibt nicht auf“ an der Volksbühne.
Es dauert keine Viertelstunde, bis Christoph Marthalers neuer Liederabend in der Berliner Volksbühne zur entscheidenden Zeit(geist)diagnose schreitet: „Ich habe Vakuum in der Sprechblase“, plaudert Lilith Stangenberg fröhlich über die Rampe und rückt ihren Leoparden-Ganzkörperanzug zurecht. Irm Hermann – klamottentechnisch ebenfalls von der Wildkatzenoptik inspiriert – plagt ein anderes Kommunikationsproblem. „Ich habe Druck auf der Sprechblase“, verkündet sie mit der feierlichen Inbrunst einer Goethe-Rezitatorin.
Manischer Redezwang bei gleichzeitiger fideler Totalemanzipation von Inhalt – diese Gesellschaftsanalyse ist im Volksbühnenparkett natürlich ein absoluter Distinktionsselbstläufer. Und weil Verbalkreationen à la „Am schönsten ist es zu Hause / du bist glücklich und das Heimweh hat Pause“ die omnipräsente Sprechblasenkultur besonders eindrucksvoll auf den Punkt bringen, lässt Marthaler in „Tessa Blomstedt gibt nicht auf“ vor allem Schlager parodieren: ein extrem risikominimiertes Volksbühnen-Heimspiel.
Die über jeden Darstellungszweifel erhabene weibliche Leo-Look-Combo, der neben Hermann und Stangenberg auch Tora Augestad, Altea Garrido und Olivia Grigolli angehören, trägt so schöne volksmusikalische Namen wie Kekke, Heike oder Silke und umhüpft ihren abgehalfterten Keyboarder Helfried (Clemens Sienknecht) mit standesgemäßen Hintergrundtanzmischungen aus rhythmischer Sportgymnastik und akutem Tourette- Syndrom. Manchmal sind Kekke und Co. aber auch einfach nur aufgebrezelte generationsübergreifende Paarungswillige von zwanzig bis sechzig plus, die signalfarbene Plastikschuhe zu feschen Kunstlederoberteilen kombinieren und gelegentlich kollektiv in der „skandinavischen“ Angeber-Benutzer-ID „Tessa Blomstedt“ zusammenschnurren.
Bach, Purcell, Udo Jürgens und Rammstein mischen kräftig mit
Denn thematisch schlängelt sich der Abend am sprechblasentechnisch natürlich höchst ergiebigen Kontaktanbahnungssujet entlang: Vom Romeo-und-Julia-Balkon bis zum Internetdating wird hier reichliche zwei Stunden lang hemmungslos Herz auf Schmerz gereimt – unter tatkräftiger Beihilfe von Johann Sebastian Bach über Henry Purcell bis Udo Jürgens oder Rammstein. Logisch, dass Marthalers liebenswert kauzige Anti-Zeitgeist-Protagonisten, Entschleunigungskünstler par excellence, den tagesaktuellen Benutzeroberflächen und Dating-Profilen besonders schräge Pointen abgewinnen: „Die ganze Frauenwelt bloß eine Textnachricht entfernt“, verheißt etwa der als „Retrovirus“ reüssierende Ulrich Voß mit dem halbseidenen Charme eines Zirkusdirektors, während die besagte „Frauenwelt“, die zur Feier des Dating-Tages den Leo-Print gegen teiltransparente Kittelschürzen eingetauscht hat, zweifellos gut daran tut, sich in der ersten Etage von Anna Viebrocks Doppelstockbühne schon mal mit körperlichen Ertüchtigungsübungen gegen den Sprechblasenansturm zu wappnen.
Möglicherweise wird auch keine Interpretin je wieder so kongenial zitteraalig Whitney Houston parodieren wie die stimmgewaltige Tora Augestad und keine Schauspielerin so formvollendet vom digitalen Schlag getroffen werden wie Irm Hermann beim analogen Blumengießen. Im äußersten linken Bühneneckchen, dem letzten Refugium des real existierenden Ikebana zwischen ortloser Pappkisten- und Internetbuden-Architektur, setzt sie sich tapfer gegen die aus dem virtuellen Off tönende Umschulungsempfehlung zur raumentgrenzenden „Digitalfloristik“ zur Wehr: „Wie soll ich eine solche Fläche allein beackern“, fragt Hermann ins Publikum mit einer Gesichtschoreografie, als ließe sie die ultimative dramatische Schiller-Katze aus dem Sack.
Weihevolle Darbietung von "Atemlos" von Helene Fischer
Denn darin, dass hier Shakespeare intoniert wird wie Dieter Bohlen und Baccara wie Elias Canetti, liegt natürlich der Witz des Abends. Die Erkenntnis, dass sich in der Herz-Schmerz-Disziplin der Weg von der Klassik zum Trash besonders kurz gestaltet, ist zwar alles andere als neu, aber dank der tollen Marthaler- Schauspieler durchaus amüsant anzusehen. Für den Moment, in dem Ulrich Voß buchstäblich einschreitet in eine weihevolle Ensemble-Darbietung des Songs „Atemlos“ von Helene Fischer, die einem größeren Hochkulturpublikum ja erst im Sommer durch ihren Auftritt am Brandenburger Tor für die Fußballnationalmannschaft bekannt wurde, hat sich der Abend eigentlich schon gelohnt. Mit bierernster Miene und der Dezibelstärke eines mittleren Donnerschlages schmettert Voß – am Rednerpult stehend wie ein personifiziertes Politiker-Wahlversprechen – den Refrain „Atemlos, schwindelfrei, großes Kino für uns zwei“ aus sich heraus, als handele es sich um die jüngste Wirtschaftskrise oder mindestens das dramatische Finale von „Richard III.“
Gemessen an Marthaler-Volksbühnen-Abenden à la „Murx“, dieser bahnbrechenden deutschen Post-Mauerfall-Seelentiefenbohrung, wirkt „Tessa Blomstedt“ natürlich wie eine Fingerübung. Und dass auch die lustigste Sprechblasenparodie nicht ohne eigenes Verbalgeblubber auskommt, das dann natürlich auch entsprechende Rezeptionsdurststrecken zeitigt, ist seinerseits selbst eine hochgradige Binse. Andererseits hat wahrscheinlich jede Ära genau das Meta-Theater, das sie verdient. Und daran, dass „Sprechblasendruck“ in Kombination mit „Sprechblasenvakuum“ diesseits wie jenseits des Theaters äußerst virulente Zeitgenossen sind, daran besteht ja leider wirklich kein Zweifel.
Wieder am heutigen Freitag sowie am 18. und 25. Oktober, 19.30 Uhr
Christine Wahl