zum Hauptinhalt
Die Beatles setzten Maßstäbe mit "She loves you, yeah, yeah, yeah, yeah"
© Fotolia

Schmieriger Pop in den Charts: Lovesongs? Nein Danke!

Kein Witz, keine Idee, keine Haltung: Bei Liebesliedern achtet man besser nicht auf den Text. Eine Klage, die von Herzen kommt.

Es fällt schwer, unter allen schrecklichen Liebesliedern das schrecklichste auszumachen, aber müsste man sich festlegen, dann wäre es vermutlich „Every Breath You Take“. Der Hit von The Police aus dem Jahr 1983, Nummer eins in den USA und Großbritannien, später zigfach gecovert. Ein zärtlicher Schmusesong, scheint es. Bis man sich die Mühe macht, einmal bewusst auf den Text zu achten: „Jeder Atemzug, jede Bewegung, jedes gebrochene Versprechen, auf Schritt und Tritt ... ich beobachte dich.“ Nanu, das wirkt doch ziemlich aufdringlich. Möchte man so einen Menschen als Verehrer oder Liebhaber oder Ehepartner haben? Zum Glück kommen noch ein paar Zeilen, vielleicht wird’s nun angenehmer. „Jeder Tag, jedes Wort, jedes Spiel, jede Nacht, ich beobachte dich ... Kannst du nicht sehen, dass du zu mir gehörst?“

Igitt. Das Lied, zu dem millionenfach geschmust und geküsst wurde, zu dem mutmaßlich Kinder gezeugt wurden, handelt von einem Stalker!?!

Dass es niemandem auffällt, liegt daran, dass Musikkonsumenten gelernt haben, bei Liebesliedern nicht zu genau hinzuhören. Weil sie wissen, dass von diesem Genre nichts zu erwarten ist außer einer Aneinanderreihung inhaltsleerer Versatzstücke und Allgemeinplätze. Hier ein „Schließe deine Augen“, dort ein „Unsere Herzen fangen Feuer“ oder vielleicht ein „Ich muss ständig an dich denken“. Wenn’s dann insgesamt noch nicht kitschig genug klingt, wird im Refrain geschmachtet, wie stark dieses schöne Gefühl sei – so stark wie noch nie im Leben zuvor. Den meisten Schmusesongs, die heute Radioprogramme und Hitparaden verstopfen, mangelt es textlich an allem, was ansonsten einen guten Popsong ausmacht: Haltung, Anliegen, Einfälle, Wortwitz, irgendeine Form von Handlung oder mal ein kluger Gedanke. Das sogenannte Storytelling ist dürftig bis nicht vorhanden. Über die beteiligten Menschen – also denjenigen, der Liebe fühlt, und denjenigen, dem sie gilt – erfährt der Hörer in der Regel gar nichts. In jeder anderen Kulturdisziplin würde der Künstler für so viel Lieblosigkeit und Nullaussage Prügel kassieren. Kein Theatermacher, kein Dichter, kein Drehbuchautor käme damit durch. Ja, jede Szene der Seifenoper „Verbotene Liebe“ bietet mehr inhaltliche Tiefe als die Texte von Liebesliedern.

David Guetta? Aneta Sablik? Können Sie vergessen!

Man muss sich bloß die Hits des Jahres 2014 ansehen, in denen Liebe besungen wird. Jeder einzelne enttäuscht durch Belanglosig- und Austauschbarkeit. David Guettas „Lovers on the Sun“, Clean Bandits „Rather Be“, Helenes Fischers „Atemlos durch die Nacht“, Robin Thickes „Blurred Lines“, Aneta Sabliks „The One“: kann man textlich alle getrost vergessen. Auch das ganz fürchterliche „Ein Hoch auf uns“ von Andreas Bourani ist eigentlich ein Liebeslied, geschrieben für die Freundin des Sängers. Weil es aber so schön inhaltsleer geraten ist, dachten sich ARD und deutsche Fans: Was soll’s, nehmen wir das als WM-Hymne. „Im Regen stehen wir niemals allein / Und solange unsere Herzen uns steuern / Wird das auch immer so sein“. Passt schon.

Wer nichts zu sagen hat, kann immer noch ein Liebeslied schreiben. Einen Reim wie „Please don’t go“ auf „I love you so“ kriegt jeder hin.

Die Beatles machten das alberne Liebeslied salonfähig

Nicht ganz unschuldig an dieser Entwicklung sind die Beatles. Vor einem halben Jahrhundert sangen sie: „She loves you, yeah, yeah, yeah / She loves you, yeah, yeah, yeah / She loves you, yeah, yeah, yeah, yeah“ und setzten damit Maßstäbe. 15 Jahre später komponierte Paul McCartney das heute vergessene Stück „Silly Love Songs“, in dem er seine Kritiker verhöhnt: „Man könnte meinen, die Menschen hätten langsam genug von albernen Liebesliedern. Aber ich schau mich um und sehe, das stimmt nicht ... Einige Leute möchten die Welt mit albernen Liebesliedern füllen. Und was ist falsch daran?“

Die Psychologin Carmen Wulf, die an der Universität Oldenburg zu Liebesliedern forschte, hat herausgefunden, dass in den 1960er und 1970er Jahren die geglückte, erfüllte Liebe im Vordergrund stand, während inzwischen eher der Liebeskummer dominiert. Tiefe hat es nicht gebracht.

Sieben Regeln für den Erfolg

Die Beatles setzten Maßstäbe mit "She loves you, yeah, yeah, yeah, yeah"
Die Beatles setzten Maßstäbe mit "She loves you, yeah, yeah, yeah, yeah"
© Fotolia

Vergangenes Jahr stellte das Musikfachblatt „Rolling Stone“ eine Liste mit Lovesongs zusammen, die der Menschheit besser erspart geblieben wären. Es fällt auf: Die schnulzigsten Stücke werden von Männern getextet und gesungen. Chris de Burgh, Rod Steward, Joe Cocker, Phil Collins, James Blunt, Seal, Bryan Adams. Allesamt Wiederholungstäter.

Es könnte einem egal sein, würde jedes nichtssagende Liebeslied im Radio nicht zwangsläufig bedeuten, dass zeitgleich ein anderes Lied mit mehr Inhalt nicht gespielt wird. Popmusik hat schließlich eine gesellschaftliche Funktion: Sie kann Missstände anprangern, Tabus brechen, Veränderung antreiben. In den aktuellen Top 20 der deutschen Charts befindet sich trotz der ernsten Zeit, in der wir leben, trotz IS-Terror, Ukraine-Konflikt und Flüchtlingsdramen, kein einziger Song mit politischem Anspruch. Mit den Liebesliedern ist es wie mit den blökenden Schafen in George Orwells Roman „Farm der Tiere“. Die geben nicht nur sinnlose Laute von sich, sondern verhindern auch, dass jemand anderes etwas Sinnvolles oder gar Dringliches beitragen könnte. Solange die Schafe blöken, kann das Tyrannenschwein Napoleon unbehelligt weiterregieren.

Die Dos and Don'ts des schlechten Liebeslieds

Das Zwischenmenschliche ist eben zentral, könnte man einwenden. Na klar, aber wo sind dann die ganzen Lieder über Eltern, Geschwister, Kinder, Onkels und Tanten, Freunde, Vereinskameraden, Kollegen, Bekanntschaften auf der Straße? Natürlich gibt es auch gute Lovesongs. Bloß finden die nicht im Mainstream statt. Wer Erfolg und Aufmerksamkeit will, muss Regeln befolgen.

1. Halten Sie alles schön vage, so dass die Sätze auf jeden zutreffen könnten. Singen Sie über Körperteile: Hände, Münder, Augen, Herzen, da weiß jeder Mensch, was gemeint ist.

2. Behaupten Sie, diese Liebe sei etwas ganz Besonderes oder gar einzigartig. Verraten Sie nicht, warum.

3. Benutzen Sie Paarreime, bei denen der Hörer schon anhand der ersten Zeile ahnt, wie die zweite enden wird. „Du brichst mein Herz?“ – „Ich spüre Schmerz“.

4. Sie haben einen raffinierten Gedanken? Vergessen Sie ihn. Raffinesse geht auf die Nerven.

5. Übertreiben Sie maßlos. Behaupten Sie: „Ich kann nicht leben, wenn ich ohne dich leben muss“. Oder: „Ich bin geboren, um dich zu beglücken.“ Oder: „Alles, was ich tue, tue ich für dich.“ Versprechen Sie, diese Liebe werde ewig halten.

6. Geben Sie keine Ratschläge, wie die Liebe zu meistern ist, stellen Sie lieber eine Frage: „Fühlst du die Liebe heute Nacht?“ - „Fühlst du genauso?“ - „Hast du jemals richtig geliebt?“.

7. Vergessen Sie niemals die Metaebene – definieren Sie, was Liebe eigentlich ist. Zum Beispiel: eine wundervolle Sache (Michael Bolton), alles (Rosenstolz), alles, was du brauchst (Beatles), ein Schimpfwort (Jason Mraz), stark (Rolling Stones), genug (Kisha), überall (Caught in the Act), überall um dich herum (Wet Wet Wet), in der Luft (John Paul Young), blau (Paul Mauriat, Vicky Leandros), sonderbar (Mickey & Sylvia), was du draus machst (Grass Roots), was wir draus machen (Kenny Rogers), ein Schlüssel zum Umdrehen (Elton John), Blindheit (U2), die Antwort (Aloe Blacc), was ich habe (Sublime), was wir brauchen (Ann Nesby), ein Killer (Madsen), so wie du (Adoro), ein Moment (Backstreet Boys), ein Schlachtfeld (Pat Benatar), dicker als Wasser (Andy Gibb), die Botschaft (Arthur Baker and The Backbeat Disciples). Keine Angst, das muss keinen Sinn ergeben, niemand wird es anzweifeln. Hauptsache, es klingt ein wenig rätselhaft.

Gelegentlich schämen sich die Künstler für ihre Taten – und ganz selten erfährt man davon: Celine Dion, Urheberin der Über-Schnulze „My Heart Will Go On“ aus dem Film „Titanic“, gab inzwischen zu, dass sie damals im Tonstudio eigentlich die Aufnahme verweigern wollte, nachdem sie das Lied zum ersten Mal gehört hatte. Nicht nur wegen des Flöten-Intros, sondern auch wegen der schmierigen Zeilen: „Jede Nacht in meinen Träumen sehe ich dich, fühle ich dich ...“ Man will gar nicht weiter übersetzen. Kate Winslet, die „Titanic“-Hauptdarstellerin, findet das Lied übrigens „zum Brechen“.

Sebastian Leber

Zur Startseite