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Unter Gauklern und Narren. Szene aus Matteo Garrones „Pentameron“-Verfilmung „Il racconto dei racconti“.
© Festival

Bonjour Cannes (3): Mummenschanz am Meer

Weltpudding und andere Schätze: Zur Eröffnung hatten sich die Festivalmacher von Cannes mit „La tête haute“ von Emmanuelle Bercot für ein bewusst schmuckloses Sozialdrama mit Catherine Deneuve entschieden. Nun folgen mit „Il racconto dei racconti“ von Matteo Garrone ein italienisches Märchen und mit Hirokazu Kore-edas „Unimachi Diary“ die Erkundung eines japanischen Familienmikrokosmos'.

Das Ritual ist vollbracht: Das mit einem fast 300 Quadratmeter großen, blendend weißen Ingrid-Bergman-Plakat geschmückte, am Mittelmeerufer ankernde Kreuzfahrtschiff namens Festivalpalast hat seine Champagnertaufe zum 68. Jahrgang hinter sich und sticht für elf Tage in die cineastische See. Zur Eröffnung am Mittwochabend rühmt der Schauspieler Lambert Wilson seine Kolleginnen als „Symbol der Liebe, ohne die das Kino nicht denkbar wäre“, und wie zur Bestätigung schweben sie zur Gala-Premiere die legendären 24 rot ausgekleideten Stufen herauf: Julianne Moore und Emmanuelle Béart, Natalie Portman und Lupita „Django Unchained“ Nyong’o, Emmanuelle Devos und Leila Bekhti, Sienna Miller und Sophie Marceau.

Unzählige derartige Liebessymbole sowie prominente Parfumfirmen-Werbeträgerinnen werden ihnen in den nächsten Tagen folgen. Da lässt sich auch das Filmbranchenblatt „The Hollywood-Reporter“ nicht lumpen und spendiert seinen Lesern schon mal drei Extra-Serviceseiten unter dem Motto „28 Luxe Essentials for Cannes“ im Gesamtwerk von schlanken 150 000 Dollar. Auch die Celebrity- und Modegazetten „Gala“ und „Grazia“ wollen da nicht länger seitab stehen und kündigen tägliche teils magazinfette Extra-Ausgaben an.

Glamour as usual also in Cannes? Gewiss und so gerne wie unvermeidlich. Was nun aber die zumeist ebenfalls sehr sehenswerten Filme angeht, die den Maschinenraum des Luxusdampfers erst mit Energie versorgen, so kündigt sich ein höchst ungewöhnlicher Jahrgang an. Nicht nur haben die Festivalmacher sich mit „La tête haute“ von Emmanuelle Bercot zur Eröffnung für ein bewusst schmuckloses Sozialdrama entschieden, in dem das französische Erb-Schmuckstück Catherine Deneuve als Jugendrichterin eine, gelinde gesagt, fremdartige Figur macht; sondern neben dem außer Konkurrenz gezeigten französischen Eröffnungs- und Abschlussfilm („La glace et le ciel“ von Luc Jacquet) laufen fünf weitere Beiträge aus der Heimat – von Jacques Audiard, Stephane Brizé, Valérie Donzelli, Maiwenn und Guillaume Nicloux – in dem 21 Titel umfassenden Kernprogramm. Ein Drittel aller Top-Filme aus Frankreich, das ist Rekord: Soll hier die Weltkarte des Kinos neu geschrieben werden?

Festivalchef Thierry Frémaux wiegelt ab, wie er auch manchen Anwurf, das Festival sei vielleicht mit der heimischen Filmindustrie zu arg vernetzt, um nicht zu sagen verfilzt, cool ignoriert. Osteuropa habe dieses Jahr wenig Überzeugendes zu bieten, erklärt er in Interviews, Lateinamerika ebenso, und Hollywood gehe in der Beschränkung auf kommerzielle Serienerfolge ohnehin schon länger andere Wege. Tatsächlich kann die französische Filmindustrie derzeit bei 40 Prozent heimischem Marktanteil und rund 200 Millionen Kinobesuchen insgesamt pro Jahr vor Kraft kaum laufen. Andererseits finden sich prominente Autoren wie Apichatpong Weerasethakul aus Thailand, Brillante Mendoza von den Philippinen und die Rumänen Corneliu Porumboiu und Radu Muntean in der Nebenreihe „Un certain regard“ wieder. An deren Ausdruckskraft wird sich die französische Übermacht im Wettbewerb besonders kritisch messen lassen müssen.

Parallel dazu – und komplementär – verläuft ein weiterer eklatanter Konzentrationsprozess. Rund die Hälfte der Wettbewerbsfilme sind internationale Produktionen in englischer Sprache. Aus den USA selbst sind nur Gus van Sant und Todd Haynes mit neuen Filmen dabei; für den anglophonen Weltmarkt gedreht haben auch die Italiener Matteo Garrone und Paolo Sorrentino, der Grieche Yorgos Lanthimos, der Norweger Joachim Trier, der Mexikaner Michel Franco und der Frankokanadier Denis Villeneuve. Begründet wird dieser cineastische Globalisierungstrend vor allem damit, dass man so mit weitaus höheren Budgets planen könne und, eng daran gekoppelt, mit dem leichteren Zugang zu den Big Names unter den internationalen Stars. Nur, wozu führt das künstlerisch: Versackt, nach dem Europudding unseligen Angedenkens der neunziger Jahre, die kreative Energie der Filmemacher nun womöglich im Weltpudding?

Matteo Garrone („Gomorra“, 2008) hat am Donnerstag mit „Il racconto dei racconti“, seiner eigenwilligen Kinoversion des „Pentameron“-Zyklus von Giambattista Basile, den – minder überzeugenden – Anfang gemacht. Zwar ist das Setting dem süditalienischen 17. Jahrhundert dieses frühen europäischen Märchenerzählers beeindruckend nachempfunden, mit prächtigen Burgen und Schlössern in weiten Landschaften, mit Gauklern und Narren, mit plastischen Kontrasten zwischen Bitterarm und Steinreich. Aber die Auswahl aus den 50 durch eine Rahmenhandlung verbundenenen Erzählungen verliert sich nach hoffnungsvollem Beginn bald in der kunstgewerblichen Lust an der computergestützten Generierung von Seeungeheuern, Monsterinsekten und schauerlich riesigen Unholden. Das Ergebnis? Eher Special Shock Effect statt fantasietreibenden Grusels oder gar Märchenzaubers.

Zwischen drei Königreichen wechselt die Handlung: Als König von Selvaseura verstirbt John C. Reilly arg früh und überlässt sein Reich der stolzen Salma Hayek. In Roccaforte herrscht Vincent Cassel und gibt den Oberlüstling, als sei er geradewegs Fellinis „Satyricon“ oder Pasolinis „Decameron“ entstiegen. Und dann ist da noch Toby Jones als König von Altomonte, der seine lebenslustige Tochter Viola (Bebe Cave) nicht freigeben will und sich am liebsten der Fütterung einer in seinen Gemächern vorm Hofstaat verborgenen Riesenwanze widmet. Es gibt alte Hexen, die sich in zauberhafte Jungfrauen verwandeln (und umgekehrt), es gibt die aparte Alba Rohrwacher, die nach einem Kürzestauftritt als Gauklerin von einem Riesen dahingemeuchelt wird, und es gibt die noch aparteren englischen Akzente etwa von Salma Hayek und Vincent Cassel. Nur ein überzeugender Grund für die Dringlichkeit dieser fraglos aufwendigen Verfilmung – und ihrer Platzierung im Wettbewerb – will sich nach all dem Mummenschanz nicht recht einstellen.

Dann doch lieber wieder mal Rob Reiners „Die Braut des Prinzen“ von 1987 gucken – oder auf „Crimson Peak“ des Jurymitglieds Guillermo del Toro warten, dessen „Pan’s Labyrinth“ (2006) vorführte, wie man eine Zaubergruselwelt fantastisch neu erfinden und erzählen kann. Oder in Cannes fasziniert gleich im nächsten Wettbewerbsfilm beobachten, wie der Japaner Hirokazu Kore-eda mit japanischen Schauspielern in japanischer Sprache in „Unimachi Diary“ absolut firlefanzfrei einen anrührend universalen Familienmikrokosmos entwirft. Drei Schwestern in ihren Zwanzigern erfahren, dass ihr Vater, der vor 15 Jahren die Familie verließ, gestorben ist. Auch ihre Mutter hat sich später von den Töchtern losgesagt, und so wurde die älteste Schwester Sachi (Haruka Asaye) zu einer Art Haushaltungsvorstand im einstigen Elternhaus. Beim Begräbnis des Vaters erfahren sie von ihrer 13-jährigen Halbschwester Suzu (Suzu Hirose) und nehmen sie, die den Vater allein bis zu dessen Tod gepflegt hat, bei sich auf.

Alte Wunden. Tabus. Erinnerungen, mit denen man sich für immer allein glaubt. Unvermutete Verwandtschaftsnähe. All das öffnet sich eher behutsam, als dass es aufbricht, und die still angesammelten Lebensdramen werden so zart und klar und diskret verhandelt und geteilt, dass dagegen die Dauerprügeleien des Nachwuchsgangsters im wenig nachhallenden Eröffnungsfilm oder auch Garrones kunstblutrünstige Orgien wie abgeschmackte Arrangements für die Kamera wirken. Weniger ist mehr. Und ein Fastnichts, wie bei Kore-eda, alles.

Jan Schulz-Ojala

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