Kultur: Verbotene Zone
Geisterstunde der Gegenwart: Christian Petzolds tragisches Kinomärchen „Gespenster“
Fünf Minuten dauert es, wenn Nina (Julia Hummer) beim Casting erzählt, wie sie ihre Freundin Toni kennen gelernt hat. Nina spricht leise, hat den Kopf gesenkt, die Augen unter den Haaren verborgen. Sie stockt, schluckt, setzt wieder an, blickt kurz zur Seite auf Toni (Sabine Timoteo). Sie sagt, sie kannte Toni schon, bevor sie ihr begegnete, aus einem Traum. Der Traum spielt im Wald, zwei Männer kommen darin vor, die einem Mädchen Gewalt antun, und Nina selbst, die nicht eingreift. „Sie schaute mich immer nur an, da wachte ich auf“, sagt Nina. Später habe sie das Mädchen aus dem Traum in der Schule getroffen. Sie sei die Königin der neuen Klasse gewesen und habe sie keines Blickes gewürdigt.
Fünf Minuten von 85. Es geschieht fast nichts – ein Mädchen redet, mehr schlecht als recht –, aber die Bilder halten gleichsam den Atem an. Wegen der Blöße, die Julia Hummer sich gibt. Und weil hinter den Worten der Schattenriss der Liebe zum Vorschein kommt. Einer Sehnsucht, die keine Erfüllung findet. Christian Petzolds Film „Gespenster“ gibt ihr eine Stimme. Die Stimme von Julia Hummer.
Den Stoff, aus dem die Traumerzählung sich nährt, kennt der Zuschauer bereits. Der Wald ist der Tiergarten in Berlin und Toni das Mädchen, das dort überfallen wird. Nina heftet sich an sie, obwohl Toni sich ihr immer wieder entzieht. Es klappt nicht richtig mit der Freundschaft, auch wenn sie sich küssen. Aber ein Traum wäre es schon, für beide.
Nina und Toni, das scheue Heimkind und die verwegene Großstadtvagabundin. Sie schlagen sich durch und finden keinen Platz in der Gesellschaft. Im offiziellen Deutschlandbild kommen sie nicht vor, nicht einmal in der Arbeitslosen-Statistik. „Sie haben“, sagt Petzold, „keine soziale Definition. Sie sind in einer Art Blase.“ Vergessene, Unbehauste, Alptraumtänzerinnen: Gespenster der Gegenwart. Wenn sie bei H & M Klamotten klauen, spazieren sie unbemerkt durch das Blickfeld der Überwachungskamera und verschwinden wieder im Tiergarten.
Gleich daneben, am Potsdamer Platz, laufen sie Françoise (Marianne Basler) über den Weg. Auch Françoise sieht Gespenster: Vor Jahren wurde das Kind der Pariserin vor einem Berliner Supermarkt entführt, eine Minute lang ließ sie es unbeaufsichtigt. Wieder eine Überwachungskamera: Sie zeichnete auf, wie ein Mann den Einkaufswagen mit der Kleinen wegschiebt, aus dem Bild, in ein unwiederbringliches Jenseits. Eine Tragödie: Noch heute glaubt Françoise, in jeder jungen Frau die verschollene Tochter Marie zu erkennen. Nina? Vielleicht. Es klappt nicht richtig mit Mutter und Tochter. Aber ein Traum wäre es schon, für beide.
Zwei Mädchen im Park, eine schmerzverstörte Frau im Hotel: Petzold führt in ihre Geschichte ein wie in ein Rätselbild. Erst spät im Film die Bilder von der Kindesentführung, erst ganz am Ende die Phantomfotos einer jugendlichen Marie; sie sieht Nina ähnlich. Ist „Gespenster“ vielleicht eine Vision von Françoise – und Nina das Mädchen aus ihrem Traum?
Zu Beginn hatte sich Françoises Ehemann auf dem Stadtring dem Zentrum Berlins genähert, eine gewöhnliche Autofahrt , im CD-Player eine herzzerreißende Trauer-Arie von Bach. Petzolds minimalistische Filmsprache ist wie die von Angela Schanelec oder Thomas Arslan keineswegs karg: Gegen die Geschwätzigkeit der Medienwelt setzt der 45-jährige Wahlberliner vielmehr die Präzision des Unscheinbaren. Wenn Françoise und ihr Mann mit wenigen Griffen das Verdeck ihres Wagens aufklappen, genügt das, um zu wissen: Dies ist ein vertrautes, bei aller Routine nicht abgestumpftes Paar.
Die Steadicam von Kameramann Hans Fromm folgt den Figuren mit behutsamer, komplizenhafter Neugier. Die Halbtotale belässt ihnen ihre Unbegreiflichkeit. Es gibt eine Distanz, die sich nicht überwinden lässt. Und es gibt gleichzeitig eine fast beschämende Intimität – wie in Ninas Casting-Geschichte. Christian Petzold ist ein Meister der richtigen Entfernung.
In Kim Ki-Duks koreanischem Film „Bin-Jip“, der noch in den deutschen Kinos zu sehen ist, entkommt der Held dem Zugriff seiner Widersacher, indem er sich nur noch hinter dem Rücken der anderen bewegt: in den 180 Grad außerhalb unseres Blickwinkels. Ein Tanz der Phantome. Vielleicht ist das Menschliche am Menschen ja genau das: dass wir um den Schatten hinter unserem Rücken wissen. Das Kino wäre dann der Ort, an dem die andere Hälfte der Welt sichtbar wird. Eine Geisterstunde, eine Todeszone.
Fast alle Filme von Christian Petzold könnten „Gespenster“ heißen, denn fast alle erkunden diesen Ort, mit nüchterner Empathie. In „Die innere Sicherheit“ lebt eine Terroristen-Kleinfamiliee im Untergrund lebt, sie kann bloß existieren, solange sie nicht in Erscheinung tritt. In „Toter Mann“ ist es das ferne Echo einer Vergangenheit, einer Tragödie von ebenfalls griechischem Ausmaß, die den scheinbar arglosen Handlungen von Nina Hoss eine dramatische Dimension verleiht. Und „Wolfsburg“ mit Nina Hoss und Benno Fürmann nimmt die Fahrerflucht nach einem tödlichen Unfall ins Visier. Etwas, wofür es keine Augenzeugen gibt, aber dessen Folgen man sich nicht entziehen kann. In „Gespenster“ spielt Fürmann den Regisseur beim Casting, also Ninas aufmerksamsten Zuschauer.
Nicht die Normalität, in die das Unerwartete einbricht, ist Petzolds Ausgangspunkt, sondern das Jenseits mitten im Diesseits. Von hier aus sehnen sich seine Heldinnen nach einer Freundin, einer Tochter, nach Normalität, die so nahe ist wie ein Parallel-Universum. Hier die Stadt, dort der Wald. Hier die versiegelte Neubau-Architektur des Potsdamer Platzes, dort das Rauschen des Windes, der an den Bäumen im Tiergarten zerrt, grundiert vom Verkehrslärm der Metropole. Hier der Trampelpfad im Großstadtmärchenwald, dort die Betonfassade des Kanzleramts. Es ist nur ein Schritt vom sozialen in den mythischen Raum, von der sichtbaren in die unsichtbare Hälfte der Welt. Eine Gratwanderung: Selten sind Filme so fragil. Manchmal balanciert „Gespenster“ an der Grenze zur Banalität – und doch fräsen sich Petzolds stille Bilder ins Gedächntnis ein.
Neben den Phantomfotos von verschollenen Kindern, die der Regisseur auf einem Postamt in Frankreich entdeckte, liegt dem Film auch Grimms Märchen „Das Totenhemdchen“ zugrunde. Eine Mutter trauert so sehr um ihr verstorbenes Kind, dass das tote Büblein sich ans Bett setzt und die Mutter bittet, es aus ihrer Trauer freizugeben – damit es in den Himmel kommen kann.
Auf Erden gibt es nur provisorische Behausungen: die Klinik, aus der Françoise von ihrem Mann abgeholt wird, Ninas Wohnheim, das Hotel, das Casting-Studio, eine Party in einer halb verfallenen Villa. Transiträume, Orte zum Wegträumen: Wenn Nina das in somnambules Rot getauchte Disco-Zimmer in der Villa verlässt, tritt sie wie durch eine unsichtbare Schranke ein ins Nebenzimmer voller gewöhnlichem Party-Lärm. Es ist wirklich nur ein Schritt.
„Sie schaute mich immer nur an, da wachte ich auf.“ Petzolds Kino, das ist der Augenblick, bevor wir aufwachen.
Ab Donnerstag im Delphi, Filmtheater am Friedrichshain, fsk, Hackesche Höfe, Kino in der Kulturbrauerei, Yorck
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