Jamaikas Tod: Modernität als Hohlformel
Wenn Unterprogrammatik auf Erneuerungs-Attitüde trifft: Was den Jamaika-Verhandlungen gefehlt hat
Das schöne Wort Jamaika mögen viele nun nicht mehr hören. Menschen, die sich als spontane Reaktion auf das Berliner Sondierungsschlamassel einfach fragen: Was haben die während dieser sieben Wochen seit der Wahl eigentlich gemacht?
Was hier genau passiert ist, zwischen Detailblindheit, Opfermut, Selbstverantwortung, Selbstverstrickung und Selbstinszenierung, das bleibt mit allen Protokollen etwas für die Zeitgeschichtsschreibung. Jedenfalls hat die Berliner Republik nun ihre erste wirkliche Zäsur erfahren. Darum lohnt es, bei aller Verwunderung doch näher auf einige Schlüsselworte der jüngsten Entwicklung zu schauen.
Neben dem ominösen „Wählerauftrag“, der sich auf keinem Stimmzettel findet und auf den sich vor allem die SPD in ihrer gewünschten Oppositionsrolle beruft (obwohl eine große Koalition die einzig klare Mehrheit besitzt), sind es Begriffe wie Veränderung und Erneuerung, die gerne kursieren. Obwohl es vor der Wahl im September keine klare Wechselstimmung gab, haben die langen Merkel-Jahre und dazu noch die als Elefantenehe empfundene Groko ein Lähmungs- und Erschöpfungsgefühl suggeriert.
Nutznießer dieser Stimmung, in die auch neue Verunsicherungen durch die Weltlage (Migration, Trump usw.) mit einflossen, waren primär die FDP und die AfD. Beide im vorigen Bundestag nicht vertreten, konnten sie sich als die „Neuen“ präsentieren, wobei die FDP durch ihren smarten Vorsitzenden Christian Lindner am ehesten den Hauch von modernisierendem Veränderungswillen zu vermitteln wusste. Die AfD dagegen, als vulgärpopulistische Variante, pocht weiterhin nur auf ein neues altes, ein eher restaurativ imaginiertes, früher angeblich heiles Deutschland. Ohne vordringlichen Modernisierungsanspruch.
Frei nach Adorno: Es gibt kein richtiges Regieren mit der falschen Politik
Dieser Anspruch schien auch Sonntagnacht bei Lindners Absage an Jamaika als Leitmotiv durch. Ein modernes Land ließe sich angeblich nicht mit der von den anderen Parteien betriebenen Politik gestalten. Lindners griffige Formel, frei nach Adorno: Es gebe kein richtiges Regieren mit der falschen Politik. Wobei allerdings einem Großteil der Wählerschaft, sogar einer FDP-nahen Klientel, kaum klar sein dürfte, was präzise die Programmatik der Liberalen ausmacht, über die Person ihres Parteivorsitzenden hinaus. Die Abschaffung des Soli, die schnellere „Digitalisierung“, mehr Bundeskompetenz in der Bildung und ein auf den Arbeitsmarkt zugeschnittenes Einwanderungsgesetz sind Bausteine. Aber bezeichnen noch keinen eigenen Neubau, keine von den Vorstellungen der übrigen Möchtegernkoalitionäre fundamental abweichende politische Architektur.
Lindners Freidemokraten haben zwar den unreflektierten Neoliberalismus des vergangenen Jahrzehnts hinter sich gelassen. Doch was ihnen stattdessen wohl vorschwebt, entspringt keiner grundlegenden Erneuerung des Liberalismus. Lindner und Kubicki klingen noch immer mehr wirtschaftstechnokratisch kalt: in ihrem Bürgerbegriff dem krämerischen bourgeois näher als dem kämpferischen citoyen. Um den oft schon zur Phrase gewordenen Begriff der Zivilgesellschaft mit frischen Energien zu befördern, bräuchte es auch eine kritische Neubesinnung etwa auf das eigene sozial-liberale Erbe (Ralf Dahrendorf, Karl-Herrmann Flach).
So ist die Frage der weiteren Digitalisierung der Gesellschaft eben keine in erster Linie technologische, Richtung quickere Breitbandtechnik und smarter Automatismus. Sondern von der Kindererziehung über das Verhältnis des Individuums zum Big-Data-Komplex bis zur Biotech-Medizin eine zivilisatorische Herausforderung. Im Angesicht der Künstlichen Intelligenz hilft keine natürliche Ignoranz.
Bei ihrem Programm härter nachgefragt, erweist sich die Lindner-Partei als ziemlich weich. Und schimmelanfällig. Jedenfalls hat Hans Magnus Enzensberger nicht zu Unrecht einmal darauf aufmerksam gemacht, dass man das Wort „modern“ nur auf der ersten Silbe betonen müsse, um die Vergänglichkeit des vermeintlich Allerneuesten zu begreifen.
Das hinderlich Ideologische liegt im zunehmend aggressiven Persönlichen
Modernität als Hohlformel könnte jetzt freilich auch so verstanden werden: als mehr Verjüngung (Lindner) und Abschottung, siehe Einwanderung und Europa- Skeptizismus. Bei beidem treffen sich die deutschen Liberalen mit den Österreichern, mit dem ÖVP-Smartie Sebastian Kurz und dessen Koalition mit der FPÖ. Lindner läge da in einem europaweiten rechtspopulistischen Trend. Andererseits geht zu viel Renationalisierung in Deutschland nicht, aus historischen, demografischen und wirtschaftlichen Gründen. Auch will Lindners Partei nicht mit der AfD verwechselt werden.
Die ganze Aufheizung der politischen Atmosphäre in diesem Herbst und Winter geschieht indes immer noch im Schattenlicht der nicht mehr allmächtigen, aber noch immer dominanten Kanzlerin. Es ist eine Gegenreaktion auf Merkels Pragmatismus, der die einen in Sicherheit und Geborgenheit wiegt, die anderen in Empörung. Verbindend ist, da wirken Macron und sogar Trump nach, der Affekt gegen das „Establishment“. Dieser Affekt aber bleibt wegen der unvermeidlichen eigenen Verfestigung jeder politischen Bewegung ein Knallfrosch. Wer im Bundestag sitzt, ist etabliert.
Merkels Methode der Unterprogrammatik führt zu einer Art formal-ideologisch aufgeladener Entprogrammatisierung. Letztere macht Koalitionskompromisse, selbst für die Grünen, eher leichter. Das hinderlich Ideologische liegt dagegen im gereizten, zunehmend aggressiven Persönlichen. Im Ideosynkratischen, in der giftiger werdenden Chemie zwischen einzelnen Protagonisten. Der neue rüde Ton im Netz und auf den Straßen färbt dann selbst auf Martin Schulz’ Barschheiten gegenüber Angela Merkel ab, die mehr von Nachwahltaktik als von realen Differenzen bestimmt sind.
Was den Jamaika-Verhandlungen offenbar gefehlt hat, war ein übergreifendes politisches Ziel. Eine Idee, eine rationale Vorstellung, wie sich das Wirkliche und das Wünschbare verbinden müssen. Ein tatsächliches Programm, keine personalisierte Ideologie.