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Genealogie in Bruchstücken. Thomas Heise sucht deutsche Schauplätze auf, er zitiert aus Briefen und Tagebüchern.
© gmfilms

„Heimat ist ein Raum aus Zeit“ im Kino: Meine Familie, unsere Geschichte

Das Politische im Privaten: Thomas Heises großer Kinoessay „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ erzählt von hundert Jahren Deutschland.

Es sind Listen aus den Jahren 1941 und 1942, drei Namenslisten von Juden, die aus Wien deportiert wurden. Langsam fährt die Kamera sie ab, Name für Name, nicht das ganze Alphabet, nur ein paar Buchstaben. Bis zum Buchstaben H, die Großmutter von Thomas Heise hieß Hirschhorn. Man bangt um die Familie, wann sind sie dran? Es dauert 24 Minuten.

Aus dem Off ist die Stimme des Filmemachers zu hören, der aus dem Briefwechsel zwischen der Wiener Verwandtschaft und der Großmutter in Berlin vorliest. Edith Hirschhorn hatte dort den Studienassessor Wilhelm Heise geheiratet. Er verliert seine Stellung wegen der „Mischehe“ und schreibt Bettelbriefe ans Ministerium, während die Hirschhorns in Wien in immer kleinere Wohnungen ziehen müssen.

Die Kohle für Juden wird rationiert, sie bekommen gar keine Kohle mehr, Deportationsgerüchte gehen um, der Onkel muss zur Sammelstelle, sie bekommen selber die Aufforderung, Abtransport in drei Stunden. Marika Rökk singt „Schau nicht hin,/ Schau nicht her/ Schau nur gradeaus,/Und was dann noch kommt,/ Mach dir nichts daraus.“ Beliebter Schlager aus einem Ufa-Film.

24 Minuten, es ist die Chronik einer Vernichtung. In ihrer Nüchternheit wird sie zur stärksten Passage in Thomas Heises dreieinhalbstündiger Spurensuche nach der eigenen Familiengeschichte. Er zeigt auch eine Straßenbahnfahrt durch das heutige Wien, Schneeregen fällt auf das Tram-Fenster, hinter der Scheibe verwischt die Stadt. Manchmal rattern Züge durch die Nacht, man hört sie mehr, als dass man sie sieht in diesem Schwarz-Weiß-Film. Die Schienenstöße, das Quietschen der Bremsen, vertrauter Lärm aus alten Zeiten, ein Unheilsgeräusch.

Von den Urgroßeltern bis heute

Die Heises über vier Generationen, davon kündet der Dokumentarfilm „Heimat ist ein Raum aus Zeit“: von den Briefen der Urgroßeltern an die Großeltern bis zum Tagebucheintrag des Filmemachers im Jahr 2016. Ja, er kündet davon: Der 64-jährige Regisseur wird zum Kundschafter der eigenen Familienangelegenheiten, vor allem von jenen Momenten, in denen das Politische ins Private vordringt.

Da ist Edith, die Wiener Bildhauerin, Wilhelm, der Berliner Kommunist, Wolfgang, der Vater, der im Arbeitslager Zerbst für „jüdische Versippte“ interniert war und Philosophieprofessor an der Humboldt-Universität wird, Rosemarie, genannt Rosi, die Mutter, die erst eine Westliebe hat, Udo aus Mainz, bis sie Wilhelm heiratet und zwei Söhne bekommt, Andreas und Thomas, von denen der eine eines Tages den Eltern einen Mann als Partner vorstellt.

Die Kamera tastet die Bilder und Schauplätze ab

„Heimat ist ein Raum aus Zeit“ erkundet das Biografische wie eine archäologische Stätte. „Wir sind schürfen gegangen“, sagte Heise, als der Film auf der Berlinale uraufgeführt wurde. Er buddelt Scherben aus, Rudimente der Kriege, des geteilten und wiedervereinten Deutschland, setzt sie behutsam zusammen, entziffert Unleserliches. So wie die Kamera die alten Fotos und heutigen Aufnahmen der Schauplätze abtastet, so tastet seine Stimme auch die Erinnerungen ab, Korrespondenzen, Dokumente.

Worte und Orte: Wie kollidiert die große Geschichte mit dem kleinen eigenen Leben? Wie geht das zusammen, der Staat und das Ich? Auf ebendiese Schnittstellen richtet Heise sein Augenmerk, und die Zeit wird einem nie lange dabei. Geschichte braucht Geduld.

Das hatte Heise schon in seinem Neonazi-Film „Stau – Jetzt geht’s los“ von 1992 deutlich gemacht, in dem ein junger Typ mit Springerstiefeln in aller Ruhe einen Napfkuchen bäckt. In „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ zitiert er einen Zeitungstext von Heiner Müller, der die Napfkuchen-Szene erwähnt. Der Dramatiker war eine Art Ersatzvater für Thomas Heise; im Film ist der Tonmitschnitt eines Disputs des Vaters mit Müller über Brechts „Fatzer“ zu hören.

Sie denken über das Verhältnis von Subjektivität und Objektivität nach, über Masse und Mündigkeit, Ohnmacht und Macht. Man hört deutlich, wie Heiner Müller an seiner Pfeife saugt – der einzige andere O-Ton. Das Vaterbild selber ist eine Kinderzeichnung, ein strenger Mann am Schreibtisch, unerreichbar. „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ wird auch zum Versuch über den abwesenden Vater.

Der Bruder war als NVA-Soldat in Oranienburg stationiert

Heise setzt seine Collage aus dem Blickwinkel derer zusammen, die im Stich gelassen werden, denen Geschichte vor allem geschieht. Manchmal ist es ein ganzes Volk. Wobei die Fülle von Sinnbildern nie platter Symbolik gehorcht, verleiht er den verfallenen Gebäuden, dem märkischen Treibsand, dem vom Tagebau geborstenen Asphalt, den kahlen Bäumen, Wolkenschatten und Winterlandschaften doch eine eigentümliche Aura. Immer sind es lange, langsame Kamerafahrten, oft von bestürzender Schönheit. Auch die Lebenslaufentwürfe, Briefstellen und Notizen entfalten Poesie und Esprit.

„Das Schöne ist nichts als der Anfang des Schrecklichen“, schreibt der internierte Vater aus Zerbst. Nicht immer erschließt sich der Zusammenhang der Bilder zu dem, was Heise zitiert, sei es ein Bericht aus dem zerbombten Dresden, seien es Udos zynische Anmerkungen zur Demokratie und seine Verliebtheit bei gleichzeitig sexistischen Sprüchen, seien es die im Stakkato-Ton verfassten Kassiber des Bruders aus Oranienburg, wo er als NVA-Soldat stationiert war. Aber das macht nichts, es gibt feine Koinzidenzen, bezeichnende Kontraste. Ton und Bild, die Linien berühren sich im Unendlichen.

"Die Narben schreien nach Wunden". Das Heiner-Müller-Zitat im Film passt zu manchen Schauplätzen im Film, ehemaligen Kasernen und verlassenen Bahnhöfen.
"Die Narben schreien nach Wunden". Das Heiner-Müller-Zitat im Film passt zu manchen Schauplätzen im Film, ehemaligen Kasernen und verlassenen Bahnhöfen.
© gmfilms

Der Wind rauscht, Menschen kommen selten ins Bild. Volle Bahnsteige am Ostkreuz zum Beispiel oder an der S-Bahn Schönhauser Allee. Ein Pärchen küsst sich am Fuß der Treppe, als Rosi ihrem Tagebuch die erste Nacht mit Wolfgang anvertraut, das ist so eine Koinzidenz. Die Aufnahmen müssen älter sein, Mauerfall-Zeit, man sieht es an der Kleidung.

[In den Berliner Kinos fsk, Krokodil, Wolf (OmenglU)]

Die Hakenkreuze wurden weggefräst

Geschichte verläuft nicht linear, manchmal verdichtet sie sich zum Palimpsest, etwa im Finanzamt Oranienburg. Das Gebäude war einst die Kaserne des Bruders, davor beherbergte es die oberste SS-Behörde zur Inspektion der Konzentrationslager. Die Hakenkreuze am Treppengeländer wurden weggefräst, die zackigen Schmiedearbeiten lassen die NS-Historie trotzdem noch erahnen. Ein Rätselbild, das nur begreift, wer die Geschichte des Hauses kennt.

Nur auf den letzten Metern beginnt der Film überdeutlich zu politisieren. Bei der Empörung über die Stasi-Debatte im Briefwechsel zwischen der Mutter und Christa Wolf, bei den Zitaten aus Heiner Müllers Pamphlet „Die Küste der Barbaren“ von 1992, bei Heises Gedanken über Deutschland nach der Wende. Aber die Einsamkeit derer, die keine Macht haben, bleibt bis zum Schluss. Als Rosi ins Pflegeheim zieht, notiert der Sohn, dass aus ihren Möbeln Gerümpel wird und die Mutter jetzt zusieht, was ihr geschieht.

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