Zum 20. Todestag von Heiner Müller: Das Licht der Finsternis
Vor 20 Jahren ist der Dichter und Denker Heiner Müller gestorben. Warum sein Geist heute fehlt. Eine Erinnerung.
Man stelle sich einmal vor, Heiner Müller wäre am 30. Dezember 1995, heute vor 20 Jahren, gar nicht gestorben. Der Dichter und Stückeschreiber, dieser scharfsinnigste Kopf der DDR (nach Brecht) und Intellektuelle von Weltrang, er wäre nun in wenigen Tagen 87 Jahre alt geworden. Und hätte er bei seiner Havanna und dem Single Malt noch die alte junge Geistesgegenwärtigkeit behalten, sähen manche Debatten im Lande wohl anders aus. Müllers Sarkasmus hätte in mach lauwarmer Talkshow einen Klimasturz bewirkt.
Er war ja gebürtiger Sachse, in seiner leisen Stimme zeitlebens hörbar. Heute rufen sie bei Pegida in Dresden „Wir sind das Volk“. Heiner Müller hatte schon bei den unvergleichlich helleren Demonstrationen 1989 das Foto gemocht, auf dem ein Einzelner in der „Wir-sind-das- Volk“-Masse ein Schildchen hochhob mit dem Bekenntnis „ Ich bin Volker“.
Es war dies ein positiver Komparativ, weil er die Steigerung hin zum Individuum anzeigte. Für Heiner Müller, der meinte, dass zehn Deutsche ganz klar „dümmer seien als fünf Deutsche“ – eine Klassifizierung, die auch für andere Nationalitäten gelte –, war das Völkische ebenso wie der absolutierte, angeblich demokratische Volkswille immer suspekt. Auch Hitler, betonte er, sei durch freie Wahlen an die Macht gelangt.
Eine friedliche Welt konnte er sich nicht vorstellen. Er hat an den vierten Weltkrieg geglaubt.
Es muss wohl im Jahr 1982 gewesen sein, zur Zeit, als Heiner Müllers damaliger Lieblingsregisseur B. K. Tragelehn bei Claus Peymann in Bochum selig die Uraufführung von Müllers „Quartett“ inszenierte. Die einzige Szenenanweisung des nach Motiven von Choderlos de Laclos „Gefährlichen Liebschaften“ geschriebenen Stücks lautet: „Zeitraum: Salon vor der Französischen Revolution / Bunker nach dem dritten Weltkrieg.“
Vor der Premiere hatte die vermutlich nette junge Journalistin irgendeines nordrhein-westfälischen Stadtmagazins den zu den Proben angereisten berühmten Dichter aus Ost-Berlin auf diese Eingangsbemerkung angesprochen. Das klinge ja furchtbar düster und pessimistisch. Müller aber lächelte nur sein breites schmales Heinerlächeln und fragte leise: Wieso denn? Es heiße doch „Bunker nach dem dritten Weltkrieg“, eben dies beweise doch seinen „Geschichtsoptimismus“!
Natürlich hatte Heiner Müller sicherheitshalber auch noch an den vierten Weltkrieg geglaubt. Eine friedliche Welt vermochte er sich jenseits der (gescheiterten) Utopien kaum vorzustellen. Und als nach der Wende 1989/90 manche vom Ende aller Konflikte und der Geschichte fabulierten, konnte Müller nur den großen Kopf schütteln. Seine These war, dass die Kunst, vor allem die des Theaters, ohne Gewalt und Tragik oder zumindest jene blutige Komik, die er „Humor des Fleischers“ nannte, gar nicht zur Blüte kommen könne.
Seine später der Schriftstellerfreundin und Ex-Schwägerin Katja-Lange-Müller diktierte Autobiografie nannte er „Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen“. Shakespeare, sagte Müller, wäre ohne Kriege und vor allem „in einer Demokratie nicht möglich gewesen“. Mit Shakespeare meinte Müller auch Müller. Als ihn Klaus Bednarz, apropos Demokratie, bei einem der Frankfurter Römerberg-Gespräche Anfang der 1990er Jahre dann fragte, ob er als Stückeschreiber nun keine Zukunft mehr habe, antwortete Müller in seiner sanften Schlagfertigkeit, das hänge doch davon ab, was man jetzt unter Demokratie verstehe.
Die DDR war für ihn Hoffnungsschmerz und Krebs des Kommunismus
Seine Stücke werden heute seltener gespielt. Zumindest im postdramatischen deutschen Dekonstruktionstheater. Obwohl Heiner Müller als Autor schon die Explosion des Autors und seiner literarischen Konstruktionen vorhergesehen hatte. Doch waren sein großes Thema die beiden Diktaturen, der Nazismus, der Weltkrieg und die DDR, die er vor 1989 zwar nie als Diktatur bezeichnet hätte (H.M. war Staatsdichter und Dissident zugleich), die ihm indes als Hoffnungsschmerz und Krebs des Kommunismus in einem erschien. Der Sarkast (das Wort kommt vom altgriechischen „sarx“, es meint rohes Fleisch) mit dem Humor des tragischen Schlachters und des Skalpellkünstlers, er, der vor 20 Jahren am Speiseröhrenkrebs gestorben ist, hatte im erwähnten „Quartett“ schon von der Krankheit gesprochen: „Krebs, mein Geliebter“.
Als vor anderthalb Jahren das Berliner Theatertreffen mit der Münchner Inszenierung von Müllers frühem Revolutions- und Produktionsstück „Zement“ eröffnet wurde, in einer letzten Inszenierung des einst von Müller entdeckten bulgarischen Regisseurs Dimiter Gotscheff, da war noch ein Mal die (mögliche) Wucht des Müller-Theaters zu spüren. Mochten die konkreten Konflikte im revolutionären Russland der Bolschewiki oder im Auge des realsozialistischen DDR-Betrachters auch historisch erledigt sein, es war doch die überzeitliche Kraft des Scheiterns erkennbar. Die mythische, die humane Macht der Tragödie – zumal die über dreistündige Aufführung auch andere Texte Müllers und etwa Kafkas miteinander verwob. Fremdheit und Selbstentfremdung, die Absurdität einer Existenz ohne höhere Heilsgewissheit: Auch das waren Müllers Themen. Nicht nur Ost oder West, vielmehr die Welt.
Tatsächlich ist Heiner Müller Deutschlands, Europas Dichter der modernen Globalisierung. (Das Wort „gewesen“ lasse ich weg.) „Der Menschheit / Die Adern aufgeschlagen wie ein Buch /Im Blutstrom blättern“, das sind so typische Müller-Sätze. Pathosformeln. Dieser Ton klingt heute sehr hoch, manchmal zu hoch, dann klingt er auch hohl. Doch in der gehöhlten Form nistet zumindest ein Echo, aus ihr tönt eine Melodie von fernher, seit der Antike, von Sophokles über Hölderlin (und viele andere), bis heute.
Der Berliner Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann hat Anfang des jetzt zu Ende gehenden Jahres in einem klugen Aufsatz in „Theater heute“ an Müller erinnert, auch an die Art und Weise, wie der Erbe den Erblasser weiterdenkt. Brecht hatte mal gesagt, man könne Shakespeare verändern, wenn man es kann. In Brechts kommunistisch-idealer „Mutter“ hieß es am Schluss: „So wie es ist, bleibt es nicht.“ Müller hatte nun seinerseits Brecht verändert: „So wie es bleibt, ist es nicht.“ Der Satz bleibt.
Müller muss nicht als Mythos, schon gar nicht als verspätete DDR-Legende, weiterleben. Auch unsere Gegenwart, seine Zukunft, war sein „Material“, wie er es nannte. Schrieb Wittgenstein, die Welt sei alles, was der Fall ist, so war für Müller die Welt vor allem das, was der Unfall ist. Er war ein Katastrophenliebhaber. Ein hellseherischer Schwarzmaler. Und so sah er das Flüchtlingsdrama, den Aufstand, das Hereinbrechen der Dritten Welt nach Europa voraus, schrieb vor aller Ökologie bereits vom „Krieg der Landschaften“, ließ Elektra, die neue Frau, zu den „Metropolen“ sprechen aus dem „Herz der Finsternis“. Müller steckt dem allen ein Licht auf. Noch immer lächelnd.
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