Autobiografie von Wolf Biermann: Mein Schreien, mein Singen, mein Gelächter
Erinnerungen an ein bewegtes Leben: Kurz vor seinem 80. Geburtstag legt Wolf Biermann seine Autobiografie vor. Lesen Sie hier vorab den Anfang des Buches und zwei Passagen aus dem Kapitel "falsche Freunde und falsche Feinde".
Weggerissen wurde der Vater mir, als ich vier Monate alt war. Diesen Schmerz soff ich am Busen meiner Mutter bei der Gestapo in Hamburg, in der Untersuchungshaftanstalt nahe Planten un Blomen, wohin Emma Biermann zu Verhören einbestellt wurde. Den gleichen Kummer schlürfte ich mit der Kunsthonigmilch in meinem Zimmerchen im Häwelmann-Bett über dem Gustavkanal, wenn unten im Fleet der kleine Schlepper mit eingeknicktem Schornstein die Schuten unter die Brücke Schwabenstraße in Richtung zum Mittelkanal zog.
Diese heillose Wunde blieb lebenslänglich offen, diesem frühen Tod kann ich nicht entfliehen. Der Kummer um den Kommunisten, den Arbeiter, den Juden Biermann ist meine Schicksalsmacht, mein guter Geist, mein böser. Er ist das Gesetz, nach dem ich angetreten bin. So muss ich sein, so bleibe ich. Marx hin, Marx her – ich konnte auf meinem langen Weg an keiner Wegscheide je diesem Fatum entfliehen. Mein Kummer blieb lebendig und machte Metamorphosen durch. Er stumpfte nicht. Er hat sich bis heute immer wieder erneuert, hat sich gewandelt, zusammen mit mir, im Umbruch der Zeiten.
Durch ihn bin ich ein frecher Zweifler geworden, dann ein frommer Ketzer, ein tapferer Renegat des Kommunismus. Ein todtrauriges Glückskind in Deutschland, ein greises Weltenkind. Dieser eingeborene Kummer um den Vater war mein Luftholen seit 1937, war mein asthmatisches Japsen seit den Bombennächten in Hammerbrook 1943. Dieser eine Grundkummer ist mein Schreien, mein Quasseln, mein Stottern, all mein Singen, mein Mut, mein Übermut, mein Gelächter, mein Schweigen. Dieser polit-genetisch gezeugte Kummer wurde all mein vegetativer Hass, aber auch meine angelernte Lust am Leben. Der Kummer um meinen Vater blieb meine verwüstbare Hoffnung, meine bedrohte Liebe.
Erste Passage aus "falsche Freunde und falsche Feinde":
Seit der Wiedervereinigung waberte und kochte auch ein Streit darüber hoch, ob sich die Ost- und die West-Berliner Akademie der Künste en bloc vereinigen sollten. Natürlich gab es in beiden Akademien ein paar starke Schriftsteller und schöpferische Künstler. Aber in der DDR-Akademie saßen auch viele Schöpfer, die besser abschöpfen konnten als schöpfen, parteitreue Betonköpfe mit Lorbeerkranz und parfümierte Arschkriecher der Diktatur. Sollten diese ehemaligen Spitzel nun auch in der Demokratie sich spreizen mit dem Prestige an der Hacke und dem Lorbeerblatt auf der Glatze?
Der einstmals verfemte Dramatiker Heiner Müller war im Jahre eins nach dem Mauerfall zum neuen Präsidenten der Ost-Akademie gewählt worden. Als ich ihn dazu auf der Beerdigung von Hans Bunge beglückwünschte, lächelte er: „Wolf, komm zu uns! Jetzt haben wir hier das Sagen! Werde schnell noch Mitglied der Ost-Akademie!“ Er spöttelte: „Du brauchst endlich den Lorbeerkranz, und wir brauchen dich.“ Ich fragte: „Wozu? Mit dir zusammen will ich gerne in jedem Gesangsverein sein, aber nicht mit dem bundesdeutschen DKP-Kastraten Degenhardt, der für meine Ausbürgerung öffentlich Partei ergriffen hat. Auch Canaillen wie Hermann Kant müsstet ihr erst mal rauskanten.“
Berliner Akademie-Streit
Die westdeutsche Akademie der Künste wurde instrumentalisiert vom Präsidenten Walter Jens, dem Ordinarius für Rhetorik an der Uni Tübingen. Spötter hatten ihm den Ehrentitel des hochgelehrten Philipp Melanchthon verpasst: Praeceptor Germaniae – Lehrmeister Deutschlands. Jetzt bewährte er sich als Zuchtmeister und Strippenzieher. Jens schaffte es mit linksprotestantischer List und katholischer Tücke. Er drückte im Berliner Akademie-Streit durch, dass die spitzelnden Hofschranzen des DDR-Regimes alle ungeprüft übernommen wurden. Friede-Freude-Eierakademie. Unter welchen Zwängen Jens das tat, konnten wir nicht ahnen, weil wir den blutjungen und naiven NSDAP-Parteigenossen in seinem Keller noch nicht kannten.
Dieser Akademie-Konflikt hatte auch die unzertrennlichen Freunde Walter Jens und Marcel Reich-Ranicki zerfreundet. Seitdem Jens mit Klaus Höpcke, dem verhassten Oberzensor der DDR, 1990 bei einer Tagung zum Thema „Kulturnation Deutschland“ im Potsdamer Cecilienhof abgestiegen war und eine Flitternacht in Josef Stalins Aura verbracht hatte, war er für MRR immer unerträglicher geworden.
Stasi oder nicht Stasi
Die Stasiakten waren nun zugänglich, und alle naslang zogen die Journalisten und Forscher aus Mielkes Nachlass neue Dokumente über die Stasi-Verstrickung etlicher DDR-Schriftsteller. In diesen Monaten rief Reich-Ranicki gelegentlich bei mir an: „Gibt es Neuigkeiten? Haben Sie neue Namen gehört? Gibt’s was Neues über Christa Wolf? Sie sind doch näher dran. Sind neue Akten aufgetaucht? Hat der Fuchs wieder was gefunden?“ Ich war nicht auf der Spitzel-Schnitzeljagd. Mir waren schon die Dutzende Leibspitzel zu viel, die in meinen Akten zusammengezählt worden waren.
Ranicki fragte auch oft bei Günter Kunert in Kaisborstel an. Kunert und ich, wir rissen darüber manchmal unsere Witze. Old Kunert machte sich einen Jux daraus, den Reich- Ranicki-Ton nachzuäffen – er könnte hervorragend als dessen polnisch gefärbter Stimmenimitator im Kabarett auftreten. Die Medienmeute interessierte sich natürlich nur für bekanntere Namen. Dass der dubiose DDRPEN-Generalsekretär Heinz Kamnitzer und der thomasmännelnde Hermann Kant „Pott un Pann“ waren mit der Stasi, konnte niemanden überraschen. Der Brecht-Schüler und Traktorist Heinz Kahlau spielte auch mal mit dem Schwert der Partei, der Literat und Krampf-Lyriker Paul Wiens kämpfte auch mal mit Mielkes Schild der Partei. Stasi oder nicht Stasi – das war bei solchen Typen für mich gar nicht die Frage, ich hielt sie eh alle für Langweiler. Und hochkarätigste Diener der Diktatur mussten sowieso nicht Mitarbeiter der Stasi sein, um der Partei zu dienen.
Marcel Reich-Ranicki hatte ein reines Gewissen, weil er es nicht benutzte
Ein herzzerreißender Fall war Helga Novak, meine Lieblingsdichterin. Sie war längst raus aus beiden Deutschländern. Sie hauste seit Jahren in Polen auf dem Land. Helga soff in ihrem polnischen Dorf die Bauern untern Tisch. Sie vegetierte schon lange als heimatlose Hexe in einer Kate. Sie fällte Bäume und stapelte ihr gehacktes Holz, sie pflanzte sich Kartoffeln, schrieb Gedichte, köpfte Weißkohl, stampfte und presste ihr Sauerkraut, schrieb Briefe an die letzten Freunde, fütterte ihre Hühner und legte Salzgurken ein, hatte kein Geld für den Arzt. Sie schlachtete ihr Schwein und selchte das Fleisch in der Tonne und brannte Schnaps. Weit in der Ferne musste die Einsiedlerin aber was mitgekriegt haben von der Schmetterlingsjagd auf den Stasi-Wiesen im wiedervereinigten Deutschland. Helga fand das nur zum Kotzen. Sie trug sowieso all die Jahre ihre schuldlose Schuld und fühlte sich nun bedroht.
Der „Spiegel“ druckte einen Wutanfall ab, den sie 1991 in der Grafschaft Powiat Tucholski, also im pommerschen Tuchel, rausgehaun hatte. Radikale Politpoesie, das tapferste Gedicht über die Feigheit der Mitmacher, ein Abgesang ohne Begleitung auf Adornos Wurlitzer Orgel: „Ohne Herkunft, Studentin vor dem Staatsexamen, liiert mit einem isländischen Studenten – war ich erpressbar. Und ich unterschrieb, September ’57. Ich wollte nämlich nicht, wie Erich Loest, sieben Jahre in Bautzen sitzen, wo mir, da ich keine Familie, gar keine Blutsverwandten hatte, niemand auch nur eine Schachtel Zigaretten gebracht hätte. Die Scham beißt ein Leben lang, aber sie ist auch eine energische Lehrerin.“
Ach Helga! Ich hielt sie immer und halte sie für die stärkste Dichterin unter den Deutschen. Nelly Sachs? Hilde Domin? Sarah Kirsch? Ulla Hahn? Im Vergleich zur Novak Zierfische! Sie erzählte mir vom Filetieren des Kabeljaus in einer Fabrik als Fischweib in Island. Das hatte sie jahrelang im Akkord am Fließband gemacht. Die starre Klinge, das scharfe Messer in der Rechten, mit dem Stahl-Schutzhandschuh über der Linken. Und nebenbei das Wichtigste: ihre Verse.
Zweite Passage aus "falsche Freunde und falsche Feinde":
Als nun im Frühsommer 1994 der Sohn des Walter Jens, Tilman Jens, einen Beitrag im WDR-„Kulturweltspiegel“ über die Verstrickungen des Marcel Reich-Ranicki mit dem polnischen Geheimdienst brachte, traute ich meinen Augen nicht. Reich-Ranicki sollte ein Mitarbeiter des polnischen Geheimdienstes gewesen sein? Ausgerechnet er? Ich konnte es nicht glauben. Pamela sagte: „Wolf, ruf ihn an und frag, was los ist. Kein Literat hat den Mut, dem Literaturpapst jetzt beizustehen. Die machen sich doch alle in die Hose. Einen so Übermächtigen in der Not verteidigt keiner gern. Du kannst es dir leisten, du musst!“ Ich rief an. Der Alte klagte, wetterte, wütete. Er habe natürlich als polnischer Konsul in der Londoner Botschaft „dienstlichen Kontakt“ auch mal mit dem Geheimdienst seines Landes gepflegt, sonst aber nichts, und schon gar nichts, dessen er sich heute schämen müsste! Alles sei übelste Verleumdung. Schuld sei Walter Jens, der habe jetzt seinen missratenen Tilman missbraucht. Jens habe seinen blöden Sohn vorgeschickt zum Denunzieren seines einstmaligen Freundes Reich-Ranicki. Das Ganze sei eine verleumderische Fernsehdokumentation, als Rache wegen dieser und jener Streitpunkte! Der alte Streit um Christa Wolf! Niemals, beteuerte Ranicki, sei er beim polnischen Geheimdienst gewesen! Das wisse auch Walter Jens ganz genau.
Ich tappte in die Falle. Ich hatte nicht die geringsten Zweifel daran, dass Reich-Ranicki mir die Wahrheit sagte. Ich setzte mich hin und verfasste einen gepfefferten Artikel für den „Spiegel“, ich verteidigte Ranicki und griff Tilman Jens an. Im Grunde so oberflächlich wie ein Journalist mit wenig Ahnung und viel Ehrgeiz. Ich war ja leider nur gespickt mit Informationen von Reich-Ranicki selbst. Als der Artikel fertig war, faxte ich ihn an den Literaturredakteur Mathias Schreiber, der lange bei Ranicki in der FAZ gelernt und gearbeitet hatte. Der Skandal kam ihm grade recht. Er leitete meinen Artikel sofort an Ranicki weiter. Der rief mich an. Er fand ihn „genial!“ – das also, was jeder Eitelaffe gerne hört. Und der Papst tönte mir ins Telefon: „Ja! Ich habe ein reines Gewissen! Ich werde Ihnen das nie vergessen, mein Liiieberr!“
Ein Literat mit Leidenschaft
Meine Polemik erschien am 13. Juni 1994. Ranicki und ich telefonierten auch noch in den folgenden Tagen, tauschten Reaktionen und Informationen aus. Am Ende des Artikels schrieb ich: „Er ist unter all den mediokren Langweilern ein Literat mit Leidenschaft. Ich liebe ihn, anders ist er auch nicht auszuhalten. Es gibt einen Aphorismus von Lec, der nicht auf den geschmähten MRR passt: ,Er hatte ein reines Gewissen, er benutzte es nie.’“ Wie unfreiwillig recht ich mit dieser letzten Witzelei hatte, dazu reichte meine Fantasie nicht aus. Ja, MRR hatte ein reines Gewissen, weil er es wirklich nicht benutzte. Er verschwieg mir sogar noch, als wir über meinen veröffentlichten Artikel sprachen, dass er inzwischen ein Interview mit dem „Spiegel“ ausgemacht hatte.
In dem Interview, das sieben Tage nach meinem Artikel erschien, antwortete MRR auf die Frage: „Herr Reich-Ranicki, waren Sie Ende der vierziger Jahre hauptamtlicher Mitarbeiter des polnischen Geheimdienstes?“ – „Jawohl, ich war in den Jahren 1948/49 Konsul der Republik Polen in London und gleichzeitig ständiger Mitarbeiter des polnischen Geheimdienstes.“ Tilman Jens hatte nichts gelogen, eher die peinliche Wahrheit noch untertrieben, denn Reich-Ranicki hatte nicht nur mit dem polnischen Geheimdienst zusammengearbeitet, sondern war dessen leitender Offizier in London, also dort, wo die polnische Exilregierung saß.
Menschlich enttäuscht über diese Täuschung
Hier ging es aus Sicht der stalinistischen Quislingspartei in Warschau um viel. Es war der Beginn des Kalten Krieges, und es ging auf Leben und Tod. Tilman Jens hatte sich nicht als Handlanger seines intriganten Vaters gegen MRR missbrauchen lassen. Meine flotte Ödipus-Schnödipus-Konstruktion hielt nicht stand. Menschlich war ich enttäuscht über diese Täuschung. Und war schockiert und beschämt über meine schlechte Gutgläubigkeit.
Als ich mit Kunert darüber sprach, zitierte er mir Goethe: „Es ist besser, man betrügt sich an seinen Freunden, als dass man seine Freunde betrüge.“ Ich besuchte auch meinen lieben Jurek Becker in Sieseby an der Schlei. Auch Jurek war über Ranickis Verhalten entsetzt. Aber er hatte noch eine andere Sicht. Er sagte: „Weißt du, was ich dazu denke? Ich finde: Was geht es eigentlich diese Deutschen an, ob ein Jude, der grade die Nazizeit überlebt hat, nach dem Krieg beim polnischen Geheimdienst war?“
Wolf Biermann: "Warte nicht auf bessre Zeiten!" (Propyläen Verlag, 576 S., 28 €), "Im Bernstein der Balladen" (Propyläen, 240 S., 24 €). Die Buchpremiere der Autobiografie findet am Mittwoch, den 12. Oktober, um 20 Uhr im Berliner Ensemble statt. Biermann erzählt darin mit gewohnt zupackender Sprache vom Vater, der in Auschwitz ermordet wurde. Von der Mutter, die ihn aus dem Hamburger Bombenhagel rettete. Und vom väterlichen Freund Robert Havemann, den das Regime gleichfalls ächtete. Das Ganze ist Zeitzeugnis und Schelmenroman zugleich: ein Erinnerungsbuch, das die Absurditäten der DDR schildert und die alltägliche Auflehnung dagegen.
Wolf Biermann
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