Kultur: „Sehr arroganter Nörgler“ In Polen ist die Geheimdienstakte Marcel Reich-Ranickis aufgetaucht
Man weiß schon länger, dass Marcel Reich-Ranicki Ende der vierziger Jahre für die polnische Stasi gearbeitet hat. Eine Zeitlang kochte die Diskussion darüber sogar ziemlich hoch.
Man weiß schon länger, dass Marcel Reich-Ranicki Ende der vierziger Jahre für die polnische Stasi gearbeitet hat. Eine Zeitlang kochte die Diskussion darüber sogar ziemlich hoch. Der Journalist Tilman Jens, der schon öfter Staub aufzuwirbeln versuchte (er ist nach dem Tod Uwe Johnsons beispielsweise illegal in dessen Haus eingebrochen), machte 1994 einen ehemaligen polnischen Agenten ausfindig, der in London 1948/49 auch mit Reich-Ranicki zusammengearbeitet hatte. Und kurze Zeit später tauchten in verschiedenen Zeitungsartikeln Akten des polnischen Außenministeriums und der polnischen KP auf, die Reich-Ranickis Tätigkeit für das polnische „Ministerium für Öffentliche Sicherheit“ nachwiesen. In seiner Autobiografie „Mein Leben“ aus dem Jahr 1999 ging Reich-Ranicki auf seine Geheimdienst-Tätigkeit ein, doch sie erschien in einem recht diffusen Licht von Harmlosigkeit und Belanglosigkeit. Da diese Autobiografie, vor allem in den ersten Teilen, eine beeindruckende Beschreibung eines deutschjüdischen literarischen Lebens im 20.Jahrhundert darstellt, wurde jener Geheimdienst-Episode auch allgemein eher nachgeordnete Bedeutung zugestanden.
Nun hat die Tageszeitung „Die Welt“ neue Dokumente zur Geheimdiensttätigkeit vorlegt. Gibt es jetzt schon wieder, nach dem Walser-Roman, einen neuen Skandal um Reich-Ranicki? Doch schon die Präsentation der Zeitung kündet von einem gewissen Zwiespalt: Während einerseits die im Warschauer „Institut des Nationalen Gedenkens“ neu aufgefundene Personalakte des Fernsehkritikers auf zwei Seiten groß aufgemacht wird, heißt die Überschrift des betreffenden Kommentars zugleich: „Nur eine Facette“. Großen Raum nimmt außerdem ein Interview mit Reich-Ranicki ein, in dem er feststellt: „Ich habe kein Wort zu korrigieren.“
Viel Lärm um nichts? Die Zeitung scheint groß auf sich aufmerksam machen zu wollen, aber gleichzeitig Reich-Ranicki in Schutz zu nehmen – eine schwierige Pirouette. In den Akten findet sich konkret immerhin folgendes: Verschiedene Vorgesetzte lobten Reich-Ranicki über mehrere Jahre hinweg: Er sei „gut in der operativen Arbeit, vernarrt in den Geheimdienst“, er „kennt die Psyche des Agenten“, und überhaupt sei er der Volksrepublik Polen „ergeben, politisch zuverlässig, bewährt“.
Die Akte umfasst nach Angaben der „Welt“ 109 Blatt, darunter Reich-Ranickis Aufnahmegesuch vom 25.10.1944, Verpflichtungs- und Schweigeerklärungen, Anträge der Vorgesetzten auf Beförderung. Reich-Ranicki brachte es schnell zum Rang eines Hauptmanns. Er erhielt drei Auszeichnungen, darunter das Silberne Verdienstkreuz „für herausragende Verdienste, Tapferkeit im Kampf mit Diversionsbanden und musterhaften Dienst“. Reich-Ranicki leitete zeitweilig kommissarisch die Abteilung für die Zensur der gesamten Auslandspost in Warschau. Dort geriet er allerdings in Zwist mit der vorgesetzten Genossin Wierblowska, in deren Zeugnis es heißt: „Fachlich beherrscht er seine Arbeit. Ist ein ehrlicher Mensch und Demokrat. Sehr arroganter Nörgler. Hat eine zu hohe Meinung von sich selbst.“ Von Januar bis April 1946 wurde er an die polnische Militärmission in Berlin entsandt, und danach in der Abteilung Nachrichtendienst in Warschau binnen weniger Monate dreimal befördert. Er wurde schließlich Leiter des Großbritannien-Referats und stellvertretender Chef der II. („operativen“) Abteilung.
Von Anfang 1948 bis Novermber 1949 war er dann in doppelter Mission in London: zum einen vom Geheimdienst ans Außenministerium ausgeliehen und Vize-Konsul, inoffiziell aber auch Agentenführer. In einem seiner Briefe berichtet Reich-Ranicki von „Elementen“ unter den Emigranten, die einer „verbrecherischen politischen Tätigkeit“ nachgingen. Ende 1949 fiel Reich-Ranicki in Ungnade: Immer wieder taucht in seiner Akte seine „unklare Rolle im Ghetto“ auf - er war bis 1943 Mitarbeiter in der Verwaltung des Warschauer Ghettos. Im Januar 1950 wurde Reich-Ranicki aus Partei und Ministerium ausgeschlossen.
Wer Reich-Ranickis Autobiografie gelesen hat, wird seine Antriebe recht gut nachvollziehen können – seine Erfahrungen des Überlebens sollte man bei allen Urteilen auch über seine Geheimdiensttätigkeit ernst nehmen. Letztlich bringt die neu aufgefundene Personalakte nichts grundsätzlich Neues, zumal man spätestens von den DDR-Stasi-Unterlagen ziemlich gut weiß, dass Formulierungen in internen Akten oft mehreren Interpretationen offen stehen.
Interessanter als eine Diskussion über moralische Verfehlungen Reich-Ranickis wäre auf jeden Fall eine Betrachtung über sein Eintreten für den neuen polnischen Staat: Der sozialistische Realismus, den er in seinen Literaturkritiken der frühen fünfziger Jahre unbeirrbar verfochen hat, hat weit reichende Folgen für seine literarischen Urteile bis heute. Wenn eine Diskussion über Reich-Ranicki für nötig angesehen wird, dann sollte sie auf dieser Ebene geführt werden. Helmut Böttiger
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