Münchner Kammerspiele: Mehr Berlin für München
Matthias Lilienthal eröffnet seine Intendanz an den Kammerspielen mit Shakespeares "Der Kaufmann von Venedig".
Die Stimmung ist angenehm gespannt, Theaterdeutschland trifft sich, eine starke Berliner Delegation vorneweg. Es ist das Ereignis der Saison, es fühlt sich an wie eines der letzten Theaterabenteuer in theaterferner Zeit. Matthias Lilienthal übernimmt die Münchner Kammerspiele, der „Berliner Straßenköter“, wie er sich selbst genannt hat, in der Maximilianstraße, der Mann vom HAU als Nachbar des Hotels Vier Jahreszeiten.
Wie schön, dass es Klischees gibt! Die beleben das Geschäft und fallen auf den zweiten Blick schnell auseinander. Lilienthal und München, das ist gar keine Mesalliance, vielmehr eine kalkulierte Setzung. Lilienthal ist ein Beweger. Er garantiert Erfolg oder doch permanentes Aufsehen, was in der verunsicherten Theaterbranche, die arm an Intendantentypen ist, das Spiel schon entscheiden kann. Und natürlich haben die 1911 gegründeten Münchner Kammerspiele eine starke Tradition des Widerständigen, Experimentellen, Politischen und vor allem der besten Schauspielerkunst. Zuletzt leiteten Frank Baumbauer und Johan Simons die Bühne, ein Kreis schließt sich. Es war 1988 bei Baumbauer in Basel, wo Lilienthal seine erste Dramaturgenstelle hatte. Aus der Schweiz ging es nach Berlin zurück, zu Frank Castorf an die Volksbühne.
Das Stadttheater ist eine großartige, kostbare Errungenschaft. Es beeinflusst seine Umgebung, integriert und polarisiert, gleichzeitig eignet ihm etwas Exterritoriales. Wenn Lilienthal und das Architekturkollektiv Raumlabor Berlin mit der Aktion „Shabbyshabby Apartements“ ein Zeichen setzen gegen die Wohnungsnot und die wahnsinnigen Mietpreise in München, dann kann man das als Provokation sehen. Doch gerade auf der Maximilianstraße fügen sich die bewusst schäbig gehaltenen, für eine Nacht buchbaren Notunterkünfte gut ins Bild ein. Vor den Designerläden sehen die Behausungen aus wie Installationen. So funktioniert das Lilienthal-Theater: als eine auf fünf Jahre angelegte Biennale.
"Der Kaufmann von Venedig": eine offene Theatersituation, wie auf der Probe
Die Welt ist kompliziert und will kuratiert sein, geordnet: Kammer 1, Kammer 2, Kammer 3, so heißen jetzt die Spielstätten nach dem Berliner Beispiel HAU 1,2,3. Angeboten wird eine Rundumversorgung mit einem Lesekreis für Thomas Pikettys „Das Kapital im 21. Jahrhundert“, Chris Dercon moderiert eine Gesprächsreihe mit Künstlern. Das klingt nach unfreundlicher Übernahme, aber Matthias Lilienthal behält sieben ältere Inszenierungen auf dem Spielplan. Stützen des Ensembles bleiben am Haus.
Die neuen Kammerspiele eröffnen mit Shakespeares „Kaufmann von Venedig“, den Hausregisseur Nicolas Stemann in der Kammer 1, im großen Haus, respektvoll in seine Einzelteile zerlegt. Schreibtische, Laptops, Drehstühle, Flachbildschirme, Instrumente: Katrin Nottrodts Bühne erinnert an ein Labor, ein Büro für Kreative. So ähnlich sieht es bei Stemann immer aus: offene Theatersituation, wie auf der Probe. Nur dass dieses prozessuale Treiben diesmal kompakter daherkommt. Sechs Schauspieler, zwei Musiker und zwei Videokameraleute bemühen sich ernsthaft um das Stück, in der Übersetzung von Elisabeth Plessen.
Shakespeare bleibt ein zu entdeckender Kontinent, zumal seine Stücke kaum noch integral aufgeführt werden. Und tatsächlich, Stemanns Truppe studiert und liest Text: auf Screens, die von der Decke hängen. Das Publikum liest mit. Es ist ein Suchen und Tasten nach Formulierungen, Haltungen, Gesten – als ob die Schauspieler ein ums andere Mal überrascht davon würden, wie glänzend dieser Shakespeare das macht. Die Liebe liegt in einer Lotterie, das Kapital befindet sich auf hoher See oder in der Hand des Kreditherrn.
Fast jeder spielt mal (fast) jede Rolle
Ein Lebensgefühl, das man kennt. Alles fließt irgendwie ab, und am Ende ist es noch mal gut gegangen. Das ist die Komödie. Die Verwechslung. Fast jeder spielt mal (fast) jede Rolle. Zitat-Theater, Frontalsprechtheater, wie beim jungen Peter Handke. Julia Riedler schält sich dann aus der Gruppe bald als Portia heraus, die überirdisch schöne und kluge und reiche junge Shakespeare-Idealfrau. Julia Riedler ist neu im Ensemble, ebenso Jelena Kuljic, die Jazzsängerin, die Portias Dienerin spielt. Und wie es oft so ist, sie gibt die Lustige, platzt vor Energie und Charme und Bosheit, während die sehr junge und sehr hübsche Herrin gelangweilt herumzickt. Die Männer treten auf als Getriebene, im Grunde sind sie die Hysterischen. Thomas Schmauser und Niels Bormann, Bassanio und Antonio, Glücksritter und Pechvogel, knutschen wild, wenn es aufregend wird, irgendwie ist da auch was Homoerotisches. Und dann gibt es noch das Problem Shylock. Das Geld. Das fatale Pfand. Die drohende Katastrophe.
Stemann flüchtet in Vorwärtsverteidigung. Voll rein ins Klischee.
Das Stück hat einen schwierigen Ruf und eine problematische Geschichte. Shylock, der Jude, der Pfandleiher, der kein Herz und keine Gnade kennt, bietet sich für antisemitische Ausfälle an. Shakespeare war das egal, wie auch bei dem anderen Venedig-Stück, „Othello“, da trifft es einen Schwarzen. Stemann löst das Dilemma mit Vorwärtsverteidigung, voll ins Klischee. Zum einen sprechen wieder alle Akteure den Shylock-Text, zum anderen wird herumgealbert mit Nazi-Posen und Zerrbildern von Juden. Und der Wahn der Political Correctness wird vorgeführt, wenn sie nacheinander erklären: Ich bin Moslem, ich bin schwul, ich bin eine Frau, ich bin ein Mann und heterosexuell – wenn ihr mich stecht, blute ich nicht?
Undsoweiter ... Es ist ein bisschen brav und ungefähr, was Stemann da zeigt. Es funktioniert nicht richtig, wenn sie aus dem Posieren und Probieren ins freie Spiel fallen, da kommt nicht viel. Nicolas Stemann macht symptomatisches Theater: klug und witzig im Ansatz, in der Ausführung aber – so ein Shakespeare ist lang und kurvenreich – im flachen Bereich. Und Stemann gehört zu den Besten der Generation der Mittvierziger.
Shylock wird, so steht’s im Text, total gedemütigt und fertiggemacht, als Geschäftsmann, aber auch als Mensch. Nicolas Stemann lässt ihn verstummen. Keiner will den Text jetzt sprechen. Und da hätte man doch gern Walter Hess hören wollen, viel länger und viel öfter, den älteren Schauspieler im Ensemble, der zwischendurch mal Kippa trägt. Seine sonore Stimme, seine Erfahrung hilft. Er erreicht tiefere Schichten der Sprache und andere Gründe der Sprachlosigkeit. Zusammengesunken hockt er an der Rampe. Alle gehen ab. Hess hat jetzt den Antonio-Text, oder ist er doch Shylock oder beide? Antonio, der gute, melancholische Mensch, ist schließlich auch ein Kaufmann in Venedig. Der nicht glücklich wird, als das Glück zu ihm zurückkommt und seine verloren geglaubten Schiffe einlaufen.
Freundlich und verbindlich im Ton, im Thema knallhart. So kennt man Rabih Mroué. Der libanesische Regisseur, Schauspieler und Autor gehört zu Lilienthals Künstlerstamm und lässt am zweiten Abend des Eröffnungswochenendes in der Kammer 2 seine Fantasie um das Attentat auf die israelischen Athleten bei den Olympischen Spielen 1972 in München kreisen. 17 Menschen starben bei dem missglückten Befreiungsversuch in Fürstenfeldbruck. Die palästinensischen Terroristen wollten Andreas Baader und Ulrike Meinhof und Gefangene in Israel freipressen. Mangelnde Sicherheit, überforderte Behörden, katastrophale Informationslage, ein tödliches Fiasko.
Rabih Mroué betrachtet in seinem neuen Stück mit dem irritierenden Titel „Ode to Joy“ die andere Seite, die Palästinenser. Er stellt fest: Es gibt keine palästinensische Erzählung des Dramas von München. Die Bühne ist leer, die Rückwand eine Leinwand. Da läuft dokumentarisches Material, das die Sicht auf das Olympia-Attentat eher noch mehr verwirrt. Die Schauspielerinnen Manal Khader und Lina Majdalanie und Rabih Mroué bewegen sich wie Geister der Geschichte im Raum, steuern die Bilder über ein iPad. Die Performance läuft in englischer, arabischer und deutscher Sprache und hat etwas von einer News Conference, bei der niemand eine Antwort bekommt. Oder diese eine: Damals ging das Bild des vermummten Geiselnehmers auf dem Balkon des Olympischen Dorfes um die Welt und hat sich ins Gedächtnis eingebrannt. Die Palästinenser wurden Gefangene dieses Fotos, man hat sie damit identifiziert.
Das Mediale, das Scheitern der Wirklichkeit an der Fiktion und umgekehrt, das sind Rabih Mroués Gedanken und Obsessionen. Das Undenkbare, Unvorstellbare, die Exekution syrischer Soldaten im Amphitheater von Palmyra zeigt er nur als Text. Kinder werden von Männern des „Islamischen Staats“ zur Exekution der Gefangenen vorgeschickt. Es gibt davon Bilder im Netz, aber Rabih Mroué benutzt sie nicht. Er lässt sich nicht von den Bildern und ihren Produzenten benutzen.
Später am Abend hat Matthias Lilienthal noch die Punk-Performerin Peaches mit ihrem Solo „Peaches Christ Superstar“ auf dem Programm, eine ältere Produktion des HAU. Als neue Regisseure hat er Christopher Rüping, Simon Stone, Philippe Quesne, Toshiki Okada und Yael Ronen engagiert. Ronen arbeitet sonst am Maxim Gorki Theater in Berlin. Er will das Haus für die Freie Szene öffnen, das bedeutet noch mehr Berlin für München; Rimini Protokoll, She She Pop und Gob Squad aus England. Die Veränderungen wirken nivellierend. An Stadttheatern entstehen festivalähnliche Strukturen, und die Theater in den großen Städten werden einander immer ähnlicher.
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