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Kunst, die weh tut. Eugene Jareckis "Trump Death Clock" am New Yorker Times Square.
© imago images/ZUMA Wire

Coronatagebuch, New York (8.): Manhattan geht es besser als Queens

Wenn eine Katastrophe weniger apokalyptisch wird als befürchtet, sagen die Populisten, es habe sie nie gegeben. Doch New Yorks Tote wissen es besser.

Klaus Brinkbäumer war zuletzt Chefredakteur des „Spiegel“ und arbeitet heute als Autor unter anderem für „Die Zeit“. Sie erreichen ihn unter Klaus.Brinkbaeumer@extern.tagesspiegel.de oder auf Twitter unter @Brinkbaeumer. In seiner wöchentlichen Kolumne „Spiegelstrich“ verfasst er derzeit ein Coronavirus-Tagebuch mit kurzen Beobachtungen aus dem Alltag und Überlegungen zur Krise.

Wir treffen uns am Hudson, setzen uns mit Masken und vier Meter voneinander entfernt auf eine Bank; wenn sein Glas leer ist, steht C., der Chirurg, auf, stellt es in die Mitte zwischen uns, und sobald er wieder dort hinten sitzt, stehe ich auf und fülle es.

Sie hatten in den New Yorker Kliniken keine „Produktkette“ und keinen „Entscheidungsbaum“, sagt der warmherzige Freund, der das exakt so kühl meint, wie die Metaphern klingen: Es gab keine Erfahrung mit Sars-Cov 2, keine Routine, keine Handgriffe.

So viele Kranke und so viele Tote

Sechs Wochen lang hatten sie nicht einmal die Zeit, über so etwas wie „Symptom A bedeutet Aktion B“ auch nur nachzudenken. Da waren so viele Kranke und so viele Tote – wie in den Lazaretten vor nunmehr über 75 Jahren. C.s Vertrag läuft am 31. Mai aus, im Januar hätte der neue abgeschlossen sein müssen, doch in diesen Zeiten, sagt die Klinik, sei über Vertragliches nicht zu reden. Respekt, Dank? In New York? Um 19 Uhr klatscht die Stadt für ihre Heldinnen und Helden, Applaus kostet nichts.

– Beim ersten Lesen bin ich … hm, was? Empört. Wie kann ausgerechnet der zartfühlende, scharf denkende Daniel Kehlmann (in der „Süddeutschen Zeitung“) sagen, dass „die Lage“ in New York „nicht so dramatisch“ gewesen sei (Vergangenheit! Ist es vorbei?), „wie es in Deutschland ankam“? Dies ist die Methode der Populisten: Wenn eine gesellschaftliche Kraftanstrengung, hier die Selbstdisziplinierung von 8,6 Millionen Menschen, dazu führt, dass eine Katastrophe weniger apokalyptisch wird als befürchtet, sagen die Populisten, es habe sie nie gegeben.

Tagesspiegel-Kolumnist Klaus Brinkbäumer.
Tagesspiegel-Kolumnist Klaus Brinkbäumer.
© Tobias Everke

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Und: Weil Covid-19 mit fließendem Wasser, mit privatem Raum, mit medizinischer Versorgung und also mit Wohlstand zu tun hat, ist es zynisch, nicht genau hinzusehen. Manhattan geht es gut, schon wahr, Montauk auf Long Island offenbar auch; Queens und der Bronx aber geht es verheerend. Vor einer Bestattungsfirma in Brooklyn standen tagelang zwei Umzugslaster, darin lagen über 50 Leichen.

Cut Man Jimmy Glenn wurde 89

– Und nun Jimmy. Ewig her, dass mir mein Freund Michael, einer der Besten des damals leuchtenden „Stern“, diesen Jimmy Glenn vorstellte. Jimmy war ein einstiger Cut Man, wie die Wundenzukleisterer im Boxen heißen; Jimmy stand sogar in Muhammad Alis Ringecke, als beide jung waren.

Als ich ihn kennenlernte, kaute Jimmy Zahnstocher und stand in seiner eigenen Ecke herum, „Jimmy’s Corner“ in der 44. Straße, beim Times Square, und schwieg. Sein Trinkgeld, Tausende von Ein-Dollar-Noten, rammte Jimmy mit Heftzwecken in die Wände seiner Kneipe, zwischen die Boxplakate. Mit mir sprach er wenig, und wenn doch, verstand ich Jimmy nicht, nickte aber hoffentlich cool. Jimmy Glenn wurde 89 Jahre alt und starb an Covid-19.

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– Beim zweiten Lesen geht’s dann aber. Kehlmann nimmt „fürchterliche“ New Yorker Szenen durchaus zur Kenntnis und sagt: "Wir befinden uns in einer der traurigsten Krisen der Menschheit. Nicht einer der schlimmsten, aber einer der traurigsten, denn das Heilmittel liegt darin, einander fernzubleiben.“

Gedankengang am Rande: Bei Gesprächen mit Hundertjährigen habe ich gelernt, dass Liebe und Freundschaft Leben retten, während Einsamkeit tötet; nun erleiden wir eine Pandemie, die uns Isolation, also Einsamkeit abverlangt; hilfreich wäre es gewiss, wenigstens digital Verbindungen aufzubauen und nicht zu kappen. Note to self: Tweets, Mails, Texte künftig zweimal lesen, ehe du sauer antwortest.

– „Unzufriedenheit mit Merkel & Co. auf Rekordtief“, heißt die Schlagzeile. Weiß die „Bild“, was sie sagen will, und ist bloß sprachlich derart lausig, dass sie das Gegenteil sagt? Oder will sie wirklich sagen, dass noch nie so wenige Menschen unzufrieden mit Merkel waren wie heute, und macht dies so elegant wie Daniel Kehlmann?

Von Klaus Brinkbäumer

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