Neuer Roman von Daniel Kehlmann: Der Tod und der Gaukler
Daniel Kehlmanns trickreicher Roman "Tyll" schickt den ewigen Schelm Till Eulenspiegel in den Dreißigjährigen Krieg.
Dieser Roman beginnt mit einer Art Chor, einem Wir, einem gar nicht mal so umfassenden, durchaus bestimmten. Es sind die Bewohner eines Dorfes, das bislang verschont geblieben ist vom Krieg, dem Dreißigjährigen, wie sich kurz darauf herausstellt. Das Dorf also erzählt, wie eines Tages Tyll Ulenspiegel mit seiner Schwesterfreundin Nele, dem Esel Origines und einer alten Frau vorbeikommt. Tyll singt, tanzt, jongliert und bringt schließlich alles durcheinander, als er die Bewohner des Dorfes auffordert, sich ihrer rechten Schuhe zu entledigen.
Ein Hauen und Stechen setzt kurz danach ein – der wollte uns auf den Arm nehmen! Nach dem Abgang der Gauklergruppe geht wieder alles seinen gewohnten Gang, und doch ist nichts mehr, wie es war. Der Krieg hält Einzug, Söldner verwüsten das Dorf, fast alle sterben. Nur will genau dieses Faktum keiner wahrhaben: „Wir aber erinnern uns, auch wenn keiner sich an uns erinnert, denn wir haben uns noch nicht damit abgefunden, nicht zu sein. Der Tod ist immer noch neu für uns, und die Dinge der Lebenden sind uns nicht gleichgültig. Denn es ist alles nicht lang her.“
Obwohl Daniel Kehlmanns Roman den Titel „Tyll“ trägt und obwohl Tyll Ulenspiegel, wie er hier heißt, in jedem der acht Kapitel gewissermaßen auftritt, ist er keine Till-Eulenspiegel-Biografie, kein Buch über den legendären Schelm und Gaukler. Der hat im 14. Jahrhundert womöglich wirklich gelebt, in der Umgebung von Wolfenbüttel, am Rande des Elms. Der könnte aber auch bloß eine beliebte Figur mittelalterlicher Erzählungen sein. Eine Figur also zwischen Leben und Tod, Wirklichkeit und Fiktion, Krieg und Frieden. Was Kehlmann entgegenkommt. Denn er hat seinen Tyll, seinen Roman in das unruhige, unübersichtliche 17. Jahrhundert mit seinen Kriegen, religionspolitischen Wirren und Hexenjagden verlegt.
Ihn interessieren andere Figuren genauso wie Tyll, bis in ihre psychische Geografie hinein: der deutsche Jesuit und Universalgelehrte Athanasius Kirchner. Der Winterkönig, Friedrich V. von der Pfalz, seine Frau, die englische und schottische Prinzessin Elisabeth Stuart. Oder der Arzt und Schriftsteller Paul Fleming. Und überhaupt der Dreißigjährige Krieg mit seinen Verheerungen in Europa, insbesondere in Deutschland.
Tyll Ulenspiegel wächst bei einer Müllerfamilie auf
Kehlmann erzählt nach dem kurzen „Schuhe“-Prolog zwar zunächst, jetzt auktorial, wie sein Tyll bei einer Müllerfamilie aufwächst, bei Vater Claus und Mutter Agnetha, und zum „Herr der Luft“ wird. Doch schon hier konzentriert er sich auf das Schicksal des Vaters, der es mit der Müllerei nicht so hat. Claus Ulenspiegel liest lateinische Bücher, ohne Latein zu können, fragt sich, wann ein Körnerhaufen ein Haufen ist und wann er den Haufencharakter verliert (wie viel Körner müssen da weg?) und beschäftigt sich bevorzugt mit Magie, Zeichenlehre und Wissenschaften. Zwei Jesuiten, darunter der junge Kirchner, überführen ihn der Hexerei und bringen ihn an den Galgen – im Einvernehmen mit den Dorfbewohnern, aber auch mit Claus selbst: „Es ist offensichtlich, dass er etwas falsch gemacht hat in seinem dummen Kopf, sonst wäre er nicht hier. Aber er weiß nicht so recht, was es eigentlich war.“
Tyll flieht daraufhin mit Nele aus dem Dorf, und so wie sie beide dann umherziehen und mal hier, mal dort gesichtet oder auch gesucht werden, so geht es von nun an in diesem Roman hin und her, in Raum und Zeit, einmal gar bis ins frühe 18. Jahrhundert, da eine der Figuren ihre Autobiografie zu schreiben versucht und sich des Krieges erinnert. Wie Kehlmanns Romane „Ruhm“ und „F“ hat „Tyll“ den Charakter eines Erzähl-, Geschichten- und Schicksalsreigens, lose verbunden in der Figur des Schelms.
Es geht also hier ins bayrische Zusmarshausen, wo die letzte große Schlacht des Dreißigjährigen Kriegs stattfindet, und dort nach England und Schottland, wo Elisabeth Stuart sich mit ihrem Vater Jakob über die bevorstehende Ehe mit Ferdinand V. unterhält: „Der Tölpel hat eine große Zukunft“, sagt der Vater. Wir erleben die Gelehrten Adam Olearius, Paul Fleming und Athanasius Kirchner auf einer Reise, um Tyll Ulenspiegel zu suchen, vielleicht auch einen Drachen, weil Kirchner das so will. Und wir sehen dort Tyll, nachdem er Mineur geworden ist und in einer Kriegsschlacht mit ein paar Kameraden verschüttet wird. Dem Tode nahe, lässt er ein paar seiner Lebensstationen an sich vorbeiziehen, um zu beschließen: „Ich geh jetzt. So hab ich’s immer gehalten. Wenn es eng wird, gehe ich. Ich sterbe hier nicht.“
Kehlmann ist sicher auf dem historischen Terrain unterwegs
Beeindruckend ist, wie sicher Kehlmann auf dem historischen Terrain unterwegs ist, wie er scheinbar ohne große Anstrengung und ohne großen Aufwand seine Settings baut. Bitte, hereinspaziert, keine Angst, dieses Jahrhundert, dieser Krieg, diese Ränke, diese Menschen, sie sind womöglich wirklich nicht so weit entfernt! Man bekommt einen Einblick in die damalige Zeit, eine Ahnung von ihrer Gottesgläubigkeit und Teufelsfurcht, ihrer Magie und ihrem Aberglauben, ihren Lehren und Irrlehren, ihren Härten und Grausamkeiten.
Geschickt vermengt Kehlmann Fiktion und überlieferte Realität. Er ist geradezu sinnlich (die Gerüche in den Kriegslagern, auf den Schlachtfeldern!), ersinnt entlarvende, scharfkantige, mitunter lustige Dialoge und fühlt sich in sein Figurenpersonal ein. Zum Beispiel in die junge und die alte Elisabeth Stuart: in ihren Drang nach Glamour, der sie und ihren Mann in sein und ihr Unglück treiben lässt. In ihre Tragik, als sie am Ende versucht, die pfälzische Kurfürstenwürde zumindest für ihren Sohn wiederzuerlangen. In ihren Fintenreichtum, der sie die eigene Würde bewahren lässt. Vieles bleibt in der Schwebe, ist Zauberei, wie der Tod, dem Tyll oder Athanasius Kirchner mit ihren Griffen in die magische Trickkiste immer wieder ein Schnippchen schlagen.
Auch Kehlmann greift in einem fort in seine literarische Trickkiste. Er lässt Shakespeare mitschwingen, zitiert einfach mal, in der Zeit weit vorausschreitend, die Gebrüder Grimm mit „Etwas Besseres als den Tod findest du überall“ oder lässt einen alten Grafen Zusmarshausener Kriegserfahrungen schildern, die aus dem „Simplicissimus“ stammen und von einer ganz anderen Schlacht handeln. Die wiederum der gute Grimmelshausen selbst aus einem fast einem Jahrhundert zuvor erschienenen Roman entnommen hatte, Philip Sidneys seinerzeit von Martin Opitz übersetzten „Arcadia“.
Das literarische Spiel ist wichtiger als die verheerte Welt
Es steckt viel drin in „Tyll“, diesem nicht nur trickreichen, sondern auch enorm unterhaltsamen Roman. Doch scheint es manchmal, als sei Kehlmann der zitatistische Erzählspaß, das literarische Spiel wichtiger als ernsthaft „eine aus den Fugen geratene Welt“ zu porträtieren, wie der Verlag auf dem Cover wuchtig schlagzeilt. So als wolle er lieber doch nicht die ferne Vergangenheit mahnend nah an unsere Gegenwart koppeln.
Seine Sprache ist klar, zielorientiert und funkelnd, sie versucht gar nicht erst, sich der Zeit anzupassen. Ihr Ton aber ist ein oft ironischer, Abstand wahrender, das ferne Jahrhundert auf Distanz haltender, womöglich warnender. Vorsicht, das ist ein historischer Roman! Oder doch nicht? So stellt sich schon die Frage nach der Motivation Kehlmanns, sich dieses Geschehens anzunehmen, nach den Erkenntnissen, die man aus „Tyll“ ziehen kann oder soll. Beispielsweise schimmerte beim „Treffen in Telgte“, einer 1979 veröffentlichten Erzählung von Günter Grass über ein Dichter-Treffen 1647, am Ende des Dreißigjährigen Krieges, natürlich die Gruppe 47 mit durch, die Frage nach der gesellschaftlichen Aufgabe, die der Literatur zukommt oder eben nicht. Und Alfred Döblin entfaltete 1920 mit seinem Roman „Wallenstein“ ein großformatiges Panorama des Dreißigjährigen Krieges, durchaus Parallelen zum Ersten Weltkrieg zulassend.
Aber hier? Es sind viel mehr Schlaglichter, die Kehlmann auf die Zeit wirft, und es hilft durchaus, sich begleitend zu der Lektüre seines Romans über das 17. Jahrhundert und die realen historischen Figuren zu informieren. Doch nötig ist das nicht unbedingt. Denn zuverlässig erscheint stets aufs Neue Tyll Ulenspiegel, der Trickser, der meistgesuchte Mann, der hier weder von den Menschen noch vom Tod wirklich gefasst werden kann. Daniel Kehlmann, das zeigt dieser Roman einmal mehr, ist ein versierter literarischer Entertainer, ein durchtriebener überdies. Und vielleicht hat er sich selbst dann und wann in seinem Titelhelden wieder gefunden: Tyll, das bin doch ich!
Daniel Kehlmann: Tyll. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2017. 474 Seiten, 22, 95 €.