Flucht aus New York: „Ich bin jeden Tag verängstigt in den Zug gestiegen“
Eine deutsche Architektin und ihr Freund suchen in Texas Schutz vor dem Virus. Ihre nächste Station könnte Berlin sein.
Am Ende muss es ganz schnell gehen. Jeden Moment könnte New York abgeriegelt werden, sie dürfen keine Zeit verlieren. Nachdem sich Viktoria Usui- Barbo und Noel Hernandez tagelang mit Lebensmitteln in ihrer Ein-Zimmer-Wohnung in Brooklyn eingeschlossen hatten, beschließen sie Anfang April, die Stadt mit einem Leihwagen zu verlassen und zur Familie nach Texas zu fahren.
Wenige Wochen zuvor, als sie als eine der Ersten in ihrer Nachbarschaft in Brooklyn Atemmasken trug, sei sie noch belächelt und dumm angeschaut worden, erzählt Usui-Barbo.
Die USA haben das Virus unterschätzt. Täglich steigt die Zahl der Infizierten und Toten weiter stark an. Bisher sind dort etwa 50 000 Menschen gestorben, die meisten davon in New York City.
Usui-Barbo ist gebürtige Kölnerin, 29 Jahre alt und wohnt seit 2015 zusammen mit ihrem Freund im Viertel Sunset Park in Brooklyn, sie arbeitet für ein Architekturbüro. Zuvor hatte sie in Berlin-Kreuzberg und Tokio gelebt.
Niemand habe damit gerechnet, dass das Virus New York erreichen würde
Ende Januar war sie noch in Deutschland, zur Beerdigung ihres Großvaters. Zu dieser Zeit wurden die Schlagzeilen über das Virus Covid-19 größer, aber in New York sei es noch ruhig gewesen. Niemand habe gedacht, dass es die Metropole erreichen würde, erzählt sie am Telefon, es habe kaum jemand darüber gesprochen.
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Am 11. Januar stirbt der erste Mensch im chinesischen Wuhan, dem Ursprung des Virus. Am 13. Januar bestätigt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine erste Erkrankung außerhalb Chinas, dann melden auch die USA einen ersten Fall. Am 25. Januar erreicht das Virus Europa. Die WHO ruft eine „gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite“ aus. Usui-Barbo ist auf dem Rückweg nach New York.
"Wirtschaft geht vor", heißt es im Büro
Nach ihrer Rückkehr erfährt sie von ersten Corona-Infektionen in Queens. Aber niemand habe Maßnahmen ergriffen, niemand Schutzmasken getragen – außer den Asiaten im Zug aus Chinatown. Auch ihr Büro in Midtown habe kaum reagiert, alles lief weiter wie bisher. „Wirtschaft geht vor“, habe es immer geheißen. „Die Situation war krass. Ich bin jeden Tag verängstigt in den Zug gestiegen.“
Sie und ihr Freund teilen sich ein Ein-Zimmer-Apartment. „Social Distancing innerhalb der Wohnung war nicht möglich.“ Und ihr Freund hat Asthma. Sie macht sich große Sorgen, sich in der Stadt, bei der Arbeit oder im Zug anzustecken und ihn dadurch in Gefahr zu bringen. Eine Infektion könnte für ihn womöglich sogar den Tod bedeuten.
Sie muss sich entschuldigen, die Maske im Büro zu tragen
Der erste offizielle Corona-Todesfall in den USA wird auf den 26. Februar datiert. Doch wie nun bekannt wurde, sind bereits am 6. und 17. Februar in den USA Menschen an der Lungenkrankheit gestorben. Usui-Barbo erzählt, wie sie im Februar damit beginnt, ihre Atemschutzmaske auch im Büro zu tragen. Ihre Kollegen sprechen sie darauf an. Sie entschuldigt sich dafür, durch die Maske Panik zu verbreiten und verweist auf die Situation in Italien, die Infektionen in Queens und die steigenden Fallzahlen.
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Italien sei weit weg, China auch, sagen ihre Kollegen. Und Queens auch. Es wird weitergearbeitet, als sei nichts gewesen. Ermutigt wohl durch Bürgermeister Bill de Blasio, der am 2. März twittert, die Leute sollten trotz Coronavirus mit dem Leben weitermachen und in die Stadt gehen.
Am 9. März gibt de Blasio jedoch bekannt, dass es in New York 16 bestätigte Fälle von Covid-19 gibt. Aber die Stadt wird nicht ruhiger, erzählt Usui-Barbo. Freunde reden von Großevents, Restaurants und Bars sind gefüllt wie sonst auch. Es ist Mitte März.
Bis zum 25. März werden in New York City bereits mehr als 17 800 Infektionen und 199 Todesfälle bestätigt. In Berlin untersagt der Senat am 11. März bis zum Ende der Osterferien alle Großveranstaltungen. Am 14. März folgt der Shutdown: Alle Kinos, Clubs und Bars müssen schließen. Zahlreiche Arbeitgeber lassen ihre Mitarbeiter im Homeoffice arbeiten.
Home-Office in New York nicht möglich
Für Usui-Barbo und ihren Freund in New York ist dies nicht möglich. Sie fangen an, Reinigungsmittel zu bunkern und bestellen 70-prozentigen Alkohol im Internet – zum Desinfizieren von Handys, Einkäufen, Einrichtungsgegenständen. Wenn sie in die Wohnung kam, habe sie sich zunächst abgeduscht und desinfiziert, erzählt Usui-Barbo.
Sie bekommt Hautausschlag von den Desinfektionsmitteln. Doch die Sorgen um das Leben ihres Partners sind größer: „Ich habe mich noch nie so schlecht gefühlt in meinem Leben, ich hatte große Angst um meinen Freund.“
Das Virus sei nicht mehr als eine starke Grippe, heißt es im Büro
In der Nähe ihres Arbeitsplatzes werden die ersten Büros geschlossen, Menschen müssen in Quarantäne. Hernandez, der für eine Künstlerin arbeitet, agiert bereits vollständig von zu Hause aus. In Teilen der USA werden Maßnahmen ergriffen und Ausgangssperren verhängt.
In ihrem Büro in New York heißt es jedoch weiterhin, das sei doch nicht mehr als eine starke Grippe. Ihr Chef will, dass sie weiterhin zur Arbeit kommt. Dabei hat sich bereits ein Mitarbeiter mit dem Virus infiziert. Er begibt sich daraufhin selbst in Quarantäne.
Erst Ende März kann Usui-Barbo dann zuhause bleiben, als es eine offizielle Mitteilung der Stadt New York gibt, eine Empfehlung zum Homeoffice. Ihr Chef geht jedoch weiterhin ins Büro. Am 27. März steigt die Zahl der Infizierten in New York City auf mehr als 23 000, 365 Menschen sind bisher gestorben. Queens ist mit 34 Prozent der Todesfälle der am stärksten betroffene Stadtteil, gefolgt von Brooklyn und der Bronx mit 22 Prozent.
„Ich habe angefangen, die Sirenen im Schlaf zu hören"
Zwischen dem 28. und 29. März verdreifacht sich die Zahl der Todesfälle binnen 24 Stunden. Usui-Barbo und Hernandez schließen sich in ihrer Wohnung ein, haben Vorräte angelegt. Sie bestellen Einkäufe nur noch online. US-Präsident Donald Trump sagte, das Virus werde einfach wieder verschwinden, „wie ein Wunder“. Doch aus dem Fenster sind ständig die Blaulichter der Krankenwagen zu sehen. Die Infektionszahlen schießen in die Höhe.
„Ich habe angefangen, die Sirenen im Schlaf zu hören. Hinter jeder Sirene steckt irgendein Schicksal, mich hat das sehr mitgenommen, ich hatte Albträume.“ Anfang April sagt Gouverneur Andrew Cuomo, New York fehlten Zehntausende Beatmungsgeräte.
„Unser Auto war grundgereinigt, es war unsere kleine Blase.“
Anfang April beschließen sie, zu Hernandez’ Familie nach Texas zu fahren. Fliegen kommt nicht infrage. Sie mieten ein Auto. New York könnte jeden Moment die Grenzen schließen oder eine Ausgangssperre verhängen. Am 4. April fahren sie los, steigen so wenig wie möglich aus. „Unser Auto war grundgereinigt, es war unsere kleine Blase.“
Sie fahren durchs regnerische New Jersey und sind froh, aus New York raus zu seien, fahren weiter bis Roanoke in Virginia und schlafen die erste Nacht im Auto. Am nächsten Tag geht es weiter bis nach Memphis Tennessee an der Grenze zu Arkansas.
Dort lebt eine Schwester von Hernandez, bei der sie übernachten - auf der Terrasse, ohne die Schwester zu berühren. Am nächsten Morgen fahren sie bis San Antonio in Texas, übernachteten bei einer verwandten Familie, ebenfalls ohne Kontakt.
Am vierten Tag und rund 3000 Kilometer später erreichen sie die Kleinstadt Weslaco nahe der Grenze zu Mexiko. „Hier ist wirklich Social Distancing möglich“, sagt Usui-Barbo. In der Stadt mit rund 35 000 Einwohnern könne man auch mal rausgehen, im Haus der Familie gebe es genug Räume für eine mögliche Isolation, die Krankenhäuser seien gut ausgestattet.
Zu diesem Zeitpunkt hat sich die Situation in New York weiter verschärft. Der Arzt Craig Spencer beschreibt in TV-Interviews die furchtbare Situation in einer New Yorker Notaufnahme, die ihn an Einsätze in Ebola-Gebieten erinnere.
Nur Berlin könne Brooklyn in Sachen Kultur das Wasser reichen
Usui-Barbo und ihr Freund leben in einer Seite des Hauses in Texas, die Familie von Hernandez auf der anderen. Seit ihrer Ankunft haben sie sich nicht umarmt. In drei Monaten könnte Usui-Barbo ihre Lizenz zur selbstständigen Architektin bekommen, die man in den USA benötigt. Aber sie fragt sich, ob das möglich sein wird. Das Paar kann zunächst von Texas aus arbeiten, ihre Chefs haben das Okay dazu gegeben.
„Das New York, in das wir zurückkehren werden, wird ein ganz anderes sein“, sind sie sich sicher. Gerne möchten sie dorthin zurück. „Aber die Situation in den USA ist ungewiss“, sagt Usui-Barbo. Deshalb überlegen sie, nach Berlin zu gehen, „in ein geregelteres und verlässlicheres Land“. Und Berlin könne mit seiner lebendigen Kunst- und Kulturszene Brooklyn das Wasser reichen.