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Pionier der digitalen Revolution und heute ihr schärfster Kritiker: der New Yorker Autor und Blogger Jaron Lanier, 58.
© Insightfoto/Verlag

Jaron Laniers Social-Media-Streitschrift: Löscht Eure Accounts!

Dieser ganze extreme Mist: Jaron Lanier erklärt, warum Facebook und Twitter so gefährlich sind.

Man könnte auf Facebook ja mal diesen Satz schreiben: „Wenn viele Menschen nach manipulativen Systemen süchtig sind, wird die Welt finster und verrückt.“ Oder diesen: „Social Media macht dich zum Arschloch.“ Aus dem Zusammenhang gerissen haben solche Sätze das Zeug, ganz oben in sämtlichen Facebook-Feeds zu landen, hier für Millionen Likes und dort für Wellen der Empörung zu sorgen.

Sie stammen aus Jaron Laniers Streitschrift „Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst“. Darin entwickelt der Internetpionier, der inzwischen einer der prominentesten Kritiker des Plattform-Kapitalismus ist, eine Art Aussteigerprogramm im Stil von „Zehn Gründe, mit dem Rauchen aufzuhören“. Tatsächlich sieht Lanier in Facebook, Google, Twitter & Co. nicht nur ein vergleichbares Suchtpotential, sondern eine ernste Gefahr für die Gesundheit und das demokratische Zusammenleben. Ähnliche Warnhinweise kennt man von Evgeny Morozov, Byung-Chul Han und Roberto Simanowski. Lanier jedoch ist kein Soziologe oder Philosoph, sondern ein abtrünniger Insider, der jahrelang den Blick „von der wundersamen gottgleichen Warte des Silicon Valley herab“ auf den „Ameisenhügel“ der Durchschnittsnutzer eingeübt hat. 2014 erhielt der Internetkritiker den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Mit Ameisen oder Pawlowschen Hunden verglichen zu werden, ist bitter. „Sei jetzt bitte nicht beleidigt“, schiebt Lanier denn auch gleich hinterher, in jenem beschwichtigenden Tonfall, mit dem gemeinhin Ärzte ihre Patienten auf schlechte Nachrichten vorbereiten. Irgendwie wissen wir ja, dass die Betreiber der Social-Media-Plattformen alles dafür tun, unsere Aufmerksamkeit zu fesseln. Doch ein Blick ins Klein-Klein der Algorithmen kann einem tatsächlich kalte Schauer über den Rücken jagen: Welche Seiten hast du geöffnet, wenn du dich entscheidest, etwas zu kaufen? Macht eine bestimmte Schrifttype dich traurig oder wütend?

Lanier sendet einen Hilferuf aus dem Herzen von Silicon Valley

Wie aus dem Internet, das Jaron Lanier in den neunziger Jahren selbst maßgeblich mitgestaltete, derartige „Verhaltensmodifikations-Imperien“ hervorgehen konnten, ist für ihn ganz eindeutig „Bummer“ (ein Slangausdruck für „Mist“ oder „Schade!“), jedoch keine zwingende oder unumkehrbare Entwicklung. Die Fehler der Anfangszeit gibt Lanier freimütig zu: Suchmaschinen und Vernetzungsplattformen wollten die damaligen Aktivisten und Aktivistinnen („meine Freunde und ich") keinesfalls dem Staat überlassen – und ebneten so den Weg für privatwirtschaftliche Monopole. Aus dem Mantra, dass Software kostenlos und offen sein sollte, entwickelte sich ein werbefinanziertes Geschäftsmodell, das mit Big Data beinahe ebenso zwangsläufig eine umfassende Verhaltensmanipulation nach sich zog. Und das haben wir nun davon: Trolle, Fake News, Hate Speech. Negative Emotionen verstärken halt die „Engagementrate“ mehr als positive. Profan ausgedrückt: Das größte Arschloch bekommt die meiste Aufmerksamkeit. Aus dieser Dynamik wiederum schlagen die Tech-Giganten ihren Profit.

Im Grunde genommen sendet Lanier einen verzweifelten Hilferuf direkt aus dem Herzen des Silicon Valley: Befreit uns von dem destruktiven „Bummer“-Geschäftsmodell, das wir selbst erschaffen haben! Die Hoffnung allerdings, dass die massenhafte Löschung von Social Media Accounts Unternehmen wie Facebook dazu bringen könnte, ihr Geschäftsmodell zu überdenken, mutet naiv an. Argumentierte Jaron Lanier in seinem Buch „Wem gehört die Zukunft?" noch dafür, die User für die Bereitstellung ihrer Daten zu entlohnen, plädiert er nun für die umgekehrte, wenig originell anmutende Option, die Internetdienste direkt zu bezahlen. Ob sich dazu wirklich jemand bereit erklärt?.

Laniers schürt Emotionen, das stört mitunter

Abgesehen von einer gewissen Ratlosigkeit in puncto praktikabler Alternativen, stört Laniers inflationärer Gebrauch verallgemeinernder Wendungen wie „finster und gefährlich“ oder „düster und durchgeknallt“. Er kritisiert „Du musst total extrem werden, wenn du etwas sagen willst, das in einem unvorhersehbaren Kontext auch nur kurz überleben kann“ und bedient damit selbst das Diktat der Aufmerksamkeitsökonomie in vollen Zügen – mit Schwarz-Weiß-Malerei und simplen Statements, die nicht zu seinen differenzierten Analysen passen wollen.

Das Cover von Laniers Erfolgsbuch.
Das Cover von Laniers Erfolgsbuch.
© Hoffmann und Campe

Wer nicht nur die bereits Bekehrten, sondern auch die behavioristisch konditionierten „Patienten“ erreichen will, deren Aufmerksamkeitsspanne nach 280 Zeichen erschöpft ist, muss nun mal Emotionen schüren, mag Lanier sich gedacht haben. Eine Gratwanderung, die – das zu seiner Verteidigung – kaum gelingen kann.

Jaron Lanier: Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst. Übersetzt von Karsten Petersen und Martin Bayer. HoCa, Hamburg 2018. 208 S., 14 €.

Anja Kümmel

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