Friedenspreis für Jaron Lanier: Vor der Maschine kommt der Mensch
Es ist eine kleine Sensation und längst überfällig: Der Internetkritiker Jaron Lanier erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, weil er trotz digitaler Revolution den Menschen nicht vergessen hat.
Schaut man sich die Preisträger der vergangenen Jahre an, dann ist die Entscheidung, dem amerikanischen Internetentwickler und Internetkritiker Jaron Lanier in diesem Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zu verleihen, eine ungewöhnliche und überraschende. Um nicht zu sagen: Sie ist eine kleine Sensation. Die in der Ukraine geborene Weißrussin Swetlana Alexijewitsch, der Chinese Liao Yiwu und der Algerier Boualem Sansal sind zuletzt mit diesem Preis ausgezeichnet worden, allesamt in ihren Heimatländern unter Repressalien leidende oder verfolgte Autoren, deren Schriften und Bücher mehr noch als von literarischer von politischer Bedeutung sind. Die Auszeichnung mit dem Friedenspreis verwies da in erster Linie auch auf Krisen- und Brennpunkte bestimmter Länder und Weltregionen.
Vor dem Hintergrund der in alle Lebensbereiche dringenden Digitalisierung und nicht zuletzt der Enthüllungen von Edward Snowdon und der NSA-Affäre jedoch ist der Friedenspreis an Lanier, der ihm am 12. Oktober in der Frankfurter Paulskirche verliehen wird, schon weniger sensationell, sondern zeitgemäß, logisch und voller gesellschafts- und globalpolitischer Strahlkraft. Der Stiftungsrat begründet seine Entscheidung unter anderem damit, dass Jaron Lanier als „Pionier der digitalen Welt“ erkannt habe, „welche Risiken diese für die freie Lebensgestaltung eines jeden Menschen birgt.“
Die Zukunft gehört uns nicht
Tatsächlich zeichnet Lanier in seinem, dieses Jahr auch auf Deutsch veröffentlichten Buch „Wem gehört die Zukunft?“, das vor allem als Porträt und Analyse unserer digitalen Kultur überzeugt, ein nicht unbedingt hoffnungsfrohes Bild eben dieser Zukunft. Uns jedenfalls gehört die Zukunft zunächst nicht, glaubt der 1960 als Sohn zweier Holocaust-Überlebender in New York City geborene und in New Mexico aufgewachsene Computerwissenschaftler, Schriftsteller und Musiker, sondern großen Internetkonzernen wie Google, Facebook oder Amazon, aber auch anderen Datensammlern wie Versicherungsunternehmen, Finanzmärkten und Geheimdiensten, von Lanier in Anlehnung an die griechische Mythologie „Sirenenserver“ genannt. Woran sich seine Frage schließt, wie wir es eigentlich verhindern können, „dass das Internet zum Herrschaftsinstrument wird, das einigen wenigen die Macht gibt, Milliarden von Menschen auszubeuten?“
Schon in seinem Buch „Gadget. Warum die Zukunft uns braucht“ aus dem Jahr 2010 hatte Lanier die Gratiskultur in der Online-Welt einerseits kritisiert, andererseits analysiert, dass die einstigen Heils-, Freiheits- und Individualisierungsversprechen des Internets nur noch auf eins zulaufen würden: die Werbung. Mit Folgen für alle, vor allem die Kreativindustrie: „Wenn die das Geld in Werbung fließt statt zu Musikern, Journalisten und Künstlern, geht es der betreffenden Gesellschaft mehr um Manipulation als um Wahrheit oder Schönheit.“
Aus der digitalen Kultur ist eine Überwachungskultur geworden
Inzwischen ist er noch desillusionierter, weil sich aus der digitalen Kultur auch eine strenge Überwachungskultur geworden ist. Zudem beschreibt er in „Wem gehört die Zukunft?“ das Internet als große Arbeitsplatzvernichtungsmaschine, die nicht nur die kreativen Berufe praktisch hinweggefegt hat, sondern auch die gesamte Mittelschicht bedroht. Erstaunlich sind solche Analysen auch deshalb, weil Lanier weiterhin im Silicon Valley seine Brötchen verdient: Er arbeitet für Microsoft und betreut ein universitäres Projekt zur Erforschung des „Internets 2“. Lanier gilt als Begründer des Begriffs „virtuelle Realität“ und war einer der ersten, der internetbasierte Computernetzwerke entwickelt hat. Nun aber mahnt er „die antihumanen Denkweisen“ bei den Software-Entwicklern des Silicon Valleys an und ist er entsetzt darüber, wie hier ambitionierteste Zukunftsprognosen unter Auslassung des Menschen getroffen werden.
Jaron Lanier setzt sich für das Bewahren humaner Werte ein.
Das klingt, als wäre der New Yorker zum Internetrenegaten geworden. Doch ist dem nur bedingt so. Lanier liebt das Internet nach wie vor; und er weiß, Realist der er auch ist, dass man eine Entwicklung wie die digitale nicht wieder zurückdrehen kann. Insofern schweben ihm Modelle eines „digitalen Humanismus“ vor, einer „humanistischen Informationsökonomie“, so wie es auch in der Begründung des Friedenspreis-Stiftungsrats anklingt: „Mit der Forderung, dem schöpferischen Beitrag des Einzelnen im Internet einen nachhaltigen und ökonomischen Wert zu sichern, setzt Jaron Lanier sich für das Bewahren der humanen Werte ein, die Grundlage eines friedlichen Zusammenlebens, auch in der digitalen Welt sind.“
Lanier fordert: Google & Co. sollen für Daten zahlen
Allerdings klingt ein Begriff wie „humanistische Informationsökonomie“ besser, als er sich in der realen digitalen Welt umsetzen lässt. So schlägt Lanier ein Mikrobezahlsystem für jede an Facebook, Amazon und Google gelieferte Information vor, die Nutzung aller an die Sirenenserver gelieferten Daten solle seiner Meinung nach kostenpflichtig werden. Denn für ihn steigt „der Wert persönlicher Informationen von Jahr zu Jahr. Der Grund, warum persönliche Daten immer wertvoller werden, ist der, dass sie den Rohstoff für die automatisierten oder hypereffizienten Systeme liefern und es immer mehr von diesen Systemen gibt.“
Das leuchtet ein, bedeutet schlussendlich aber, dass das Private noch weiter kommerzialisiert wird. Zumal Lanier trotz langer Beschreibungen, wie man so ein Bezahlsystem technisch umsetzen könnte, doch vage bleibt. Ähnlich wie bei seinen Prognosen bezüglich der Zukunft unserer Buchkultur: „Ein Buch ist kein bloßes Objekt, sondern vollgültiger Ausdruck eines Individuums im Fluss der Menschheitsgeschichte“, schönschreibt Lanier, um zu folgern: „Das Wirtschaftsmodell unserer Netzwerke muss optimiert werden, um diese individuelle Ausdrucksmöglichkeit zu bewahren, oder es wird der Menschheit nicht dienlich sein“.
Was er aber ziemlich sicher weiß: „Wenn es so weit ist, dass die meisten Bücher digital erscheinen, werden die Eigentümer der wichtigsten Internetserver, die Lesestoff anbieten (wahrscheinlich in Silicon Valley angesiedelt), mächtiger und reicher sein als vorher“. So eine Aussage klingt natürlich gerade bei dem den Friedenspreis auslobenden und immer wieder die Monopolstellung von Amazon auf dem digitalen Markt heftig kritisierenden Börsenverein des Deutschen Buchhandels lange nach. Auch deshalb ist die Auszeichnung für Lanier nur konsequent – und überfällig.
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