Barry Jenkins „Beale Street“ im Kino: Liebe, stärker als der Knast
„Beale Street“ ist die erste US-Verfilmung eines Romans von James Baldwin. Regisseur Barry Jenkins über die Aktualität des afroamerikanischen Schriftstellers.
Die Beale Street in New Orleans ist kein realer Ort. Hier wurde weder Louis Armstrong geboren noch der Jazz erfunden. Der Schriftsteller James Baldwin verstand die Straße im Titel seines Romans „If Beale Street Could Talk“ von 1973 als Metapher für die afroamerikanische Erfahrung in einem trotz Bürgerrechtsbewegung rassistischen Land. „Jeder schwarze Amerikaner wurde in der Beale Street geboren“, hat Baldwin gesagt. "Sie ist unser Vermächtnis."
Regisseur Barry Jenkins stellt die Worte seiner Romanverfilmung voran. Die Stimme des bedeutenden afroamerikanischen Autors war schon in seinem Oscar-Film „Moonlight“ deutlich zu vernehmen. Mit „Beale Street“ bekommen Baldwins Worte nun ein eigenes Gewicht: Sie werden Klang aus den Mündern von Hauptdarstellerin Kiki Layne und ihres Partners Stephan James und erhalten schließlich eine zarte, musikalische Körperlichkeit. Es ist, 32 Jahre nach dem Tod des Schriftstellers, die erste US-Verfilmung eines Baldwin-Romans.
Die Perspektive der afroamerikanischen Erfahrung ist ein Blick durch Sicherheitsglas. „Ich hoffe, dass niemand jemals einen geliebten Menschen durch eine Scheibe ansehen muss“, sagt die 19-jährige Tish am Anfang aus dem Off. Tish besucht ihren Verlobten im Gefängnis. Der drei Jahre ältere Alonzo, genannt Fonny, sitzt für ein Verbrechen, das er nicht begangen hat. Ein junges Leben hat kaum begonnen, da ist der weitere Weg schon vorgezeichnet. Und das nächste Problem kündigt sich an: Tish ist schwanger.
Jenkins Respekt vor Baldwin ist enorm
Tish sitzt also Fonny gegenüber und weiß nicht, wie sie ihm die Neuigkeit mitteilen soll. Und was der Schritt für die junge Verkäuferin aus einer schwarzen Arbeiterfamilie in Harlem bedeutet. Bei Baldwin entfalten sich ihre Sorgen und ihre Liebe zu Fonny in einem inneren Monolog zwischen Stolz, Zweifel und einem unerschütterlichen Realitätssinn. Jenkins arbeitet in der Szene fast nur mit den Gesichtern seiner Darsteller. Layne und James blicken in die Kamera, als würden sie zum Publikum sprechen. Aber sie haben nur Augen füreinander.
Barry Jenkins hatte das Skript für „Beale Street“ schon fertig, als er vor zwei Jahren mit „Moonlight“ Oscars für sein Drehbuch und den besten Film gewann. Die Verleihung, als nach dem Fiasko mit den vertauschten Karten zunächst die Macher von „La La Land“ auf der Bühne standen, ist in die Academy-Annalen eingegangen. Das richtige Kärtchen ist heute in seinem Besitz, erzählt Jenkins beim Interview in Berlin, Warren Beatty hat es ihm zugesteckt. Der Hollywood-Veteran kannte James Baldwin persönlich, er meldete sich auch bei Jenkins, um zu „Beale Street“ zu gratulieren. Für Jenkins ist der Film eine Herzensangelegenheit. Dass er sich an den Stoff herangewagte, imponierte auch der Familie des Schriftstellers. Jenkins spricht nur von „Mr. Baldwin“, sein Respekt ist enorm. Er ist „Beale Street“ anzumerken.
Auch in „Moonlight“ fand sich vieles von dem, was bereits Baldwins Roman auszeichnet: der feinfühlige Blick auf den afroamerikanischen Alltag, der innere Zusammenhalt der Familie und der äußere Druck, gegen den sich ein hoffnungsvoller Naturalismus behauptet, sowie die persönliche Bilanz einer Epoche über gut zwei Jahrzehnte. Baldwin und Jenkins sind beide mit der Erfahrung als schwarze Minderheit in Amerika aufgewachsen, aber sie zeichnen ein optimistisches, fast idealisiertes Bild.
Einen Oscar gab es für Regina King
„Es gibt eine Leerstelle von Geschichten aus einer bestimmten gesellschaftlichen Perspektive“, sagt Jenkins. „Darum mutet der Ansatz, diese Geschichte emphatisch und menschlich zu erzählen, radikal an.“
Radikal war Baldwin allein schon als offen schwuler, schwarzer Intellektueller, es machte ihn auch beim FBI verdächtig. Jenkins’ Film ist wie der Roman radikal weniger in der Form als in seiner konsequenten Haltung: der romantischen Liebesgeschichte eines jungen schwarzen Paares vor dem Hintergrund des amerikanischen Rassismus. Visuell bedient er sich eines stilisierten Sozialrealismus in warmen Farbtönen von Ocker bis Braun (Tishs Mantel in der Eröffnungsszene ist in dezentem Gelb gehalten), der an das Kino der siebziger Jahre erinnert.
„Mr. Baldwins Sprache ist klar, sie besitzt eine Wahrhaftigkeit“, erklärt Jenkins die gegenwärtige Renaissance des Schriftstellers. „Wenn man das Buch 45 Jahre später liest, stellt man fest, dass vieles von dem, worüber er schreibt, noch immer Gültigkeit besitzt. Ich glaube, viele Menschen suchen heute nach Orten, um zu verstehen, was gerade um sie herum geschieht. Mr. Baldwins Texte sind einer dieser Orte.“
Auch Jenkins’ Verfilmung könnte so ein Ort werden, selbst wenn die Academy das etwas anders sah. Ausgezeichnet mit dem Oscar für den besten Film wurde vor zwei Wochen „Green Book“: ein Film, der den strukturellen Rassismus der sechziger Jahre aus der Perspektive des weißen Protagonisten schildert. „Beale Street“ war nicht einmal als bester Film nominiert, einzig Regina King erhielt einen Oscar als beste Nebendarstellerin in der Rolle von Tishs Mutter. Sharon, Vater Joseph (Colman Domingo) und die ältere Schwester Ernestine (Teyonah Parris) geben Tish emotionalen Rückhalt, ihre Familie ist noch intakt. Anders als die Fonnys, in der der joviale Vater seiner Frau gegenüber auch schon mal handgreiflich wird.
Horror und Harmonie in derselben Alltagserfahrung
Probleme ergeben sich erst außerhalb der Familie. Wenn die frisch Verlobten in einer Rückblende vergeblich eine Wohnung suchen und auf die Hilfsbereitschaft eines jungen New Yorker Juden (Dave Franco) angewiesen sind. Und durch die Bedrohung des amerikanischen Gefängnissystems, das für jeden Afroamerikaner eine realistische Zukunftsoption darstellt.
Einmal sitzt Fonnys gerade entlassener Jugendfreund Daniel (Brian Tyree Henry in einem phänomenalen Kurzauftritt) am Küchentisch des Paares und erzählt von seinen Erlebnissen im Gefängnis. Wieder arbeitet Jenkins’ Kameramann James Laxton nur mit den Gesichtern im Halbdunkel und mit Baldwins Worten. Die Intimität des Gesprächs ist angesichts der brüchigen, fast geflüsterten Sätze dieses gutmütigen Riesen niederschmetternd: „Wenn du da drin bist, können sie mit dir machen, was sie wollen. Im Knast habe ich verstanden, was Malcolm meinte: Der weiße Mann muss der Teufel sein.“
Die Daniel-Szene gehört zu den Schlüsselmomenten des Films, weil der Schrecken der afroamerikanischen Erfahrung im Schutz der eigenen vier Wände Gestalt annimmt. Daniel gibt bereits eine Vorahnung, was Fonny blühen wird. Und dann trennt ein einziger Schnitt den düsteren Monolog von dem ausgelassenen Abendessen der drei, ihrem befreiten Lachen – und Nina Simones beschwörendem „That’s All I Ask“. Horror und Harmonie existieren in „Beale Street“ in derselben Alltagserfahrung.
„In die Vergangenheit zurückzuschauen“, sagt Barry Jenkins über die Aktualität des Romans, „ist in mancher Hinsicht mächtiger als ein Blick auf die Gegenwart. Es ist beschämend: Wie zur Hölle konnten wir dieses Problem bis heute nicht lösen?“ Zwei Sequenzen mit Schwarz-Weiß-Fotografien, inspiriert von Gordon Parks’ Fotoessay „A Harlem Family“, stellt Jenkins an den Beginn und ans Ende seines Films. Schwarze Kinder und junge Männer in den Straßen New Yorks. „Children of our Age“ nennt Baldwin sie in „If Beale Street Could Talk“.
"Moonlight" als Symbol des Wandels
Baldwin selbst hat an Drehbüchern zu seinen Romanen gearbeitet. Jenkins erfuhr davon erst, als ihm die Schwester ein Notizheft schickte. Als Regisseure schwebten dem frankophilen Baldwin, der einige kluge Texte über das Kino geschrieben hat, François Truffaut und Louis Malle vor. Dass er sich in diese Liste nun einreiht, kann Jenkins kaum fassen. „If Beale Street Could Talk“ sei gar nicht mal sein Lieblingsroman, erzählt er lachend, das sei „Giovanni’s Room“, den Baldwin in Paris schrieb. „Aber ich mag, wie sich seine zwei Stimmen in ,Beale Street‘ verbinden. Der Essayist James Baldwin war ein anderer Autor als der Literat James Baldwin. Im Dialog von Tish und Fonny finden diese beiden Stimmen zueinander.“
Am Ende kommt Jenkins noch einmal auf die denkwürdige Oscar-Nacht vom 26. Februar 2017 zu sprechen, als man für einen Moment glauben konnte, dass das traditionelle Hollywood sich an seinen schwindenden Status klammert. Er sieht die Szene in einem größeren Zusammenhang: „Tatsache ist, dass sich die Academy für einen Film über einen schwarzen Jungen aus ärmlichen Verhältnissen entschieden hat. Dieses Bild wurde durch einen menschlichen Fehler verzerrt. Ich verstehe diese Symbolkraft, auch 'Moonlight' war für viele das Symbol eines Wandels.“ Jenkins findet hingegen den Verdacht, ihm wurde der Oscar verweigert, bezeichnend für den Zwiespalt in der amerikanischen Gesellschaft. Dass eine Verschwörung gegen einen schwarzen Regisseur überhaupt denkbar gewesen sei.
In 11 Berliner Kinos, OV: Cinestar Sony Center, Rollberg, OmU: Delphi Lux, Filmtheater am Friedrichshain, Hackesche Höfe, Passage, Odeon, Wolf
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