Besetzte Volksbühne in Berlin: Lederer lässt einen rechtsfreien Raum zu
Die Berliner Volksbühne ist besetzt. Eine polizeiliche Räumung am Wahlwochenende will kein Politiker, schon gar keiner von der Linkspartei. Ein Kommentar.
Nur mal zur Abwechslung: Ein paar hundert anonyme Aktivisten, Künstler, Selbstdarsteller mit Kind und Hund besetzen die Staatsoper Unter den Linden. Sie erklären das Haus zum Symbol der Gentrifizierung und all der anderen Entwicklungen, die schieflaufen in dieser Stadt, in diesem Land, auf dieser Welt. 400 Millionen Euro für die Sanierung eines Musiktheaters, das sage doch schon alles. Im Übrigen sei die Staatsoper ein Relikt aus Zeiten der Monarchie und werde nun kollektiv von einer Stadtgesellschaft bespielt ...
Es braucht nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, was bei so einem Szenario passieren würde. Der Senat würde das Gebäude räumen lassen. Schließlich soll die Berliner Staatsoper am 3. Oktober mit Tamtam und großer Prominenz nach vielen Jahren Verspätung feierlich wiedereröffnet werden.
Zwei Kilometer entfernt stellt sich die Lage anders dar. Am Freitagnachmittag wird die Volksbühne besetzt. Später am Abend kommt Kultursenator Klaus Lederer von der Linken zum Rosa-Luxemburg-Platz und verhandelt mit den Eindringlingen. Lederer scheint deren Anliegen ernst zu nehmen. Zwar verurteilt er die Vorgehensweise, unternimmt aber erst einmal nichts, um die neuen Volksbühnenchefs nach Hause zu schicken. Sie dürfen bleiben und Party feiern. Lederer bleibt auch. Für die Besetzer nimmt er sich mehr Zeit als für manchen Intendanten. Dabei genügt ein Blick auf ihre Forderungen, um die Absurdität und die Kunstfeindlichkeit der Aktion zu erkennen.
Polizeiliche Räumung? Solche Bilder will kein Politiker vor der Bundestagswahl
Eine polizeiliche Räumung vor der Bundestagswahl? In Berlin-Mitte? Solche Bilder will kein Politiker, schon gar keiner von der Linkspartei. Die hat sich letztes Jahr in ihrem Programm zur Abgeordnetenhauswahl einer Kulturpolitik verschrieben, die der Freien Szene neue Räume öffnet und das partizipative Element stärkt.
Das passiert jetzt an der besetzen Volksbühne, irgendwie. Wie immer es ausgeht und weitergeht – es ist ein Schaden für Chris Dercon, den neuen Intendanten. Den wollen die Besetzer vertreiben. Viele halten ihn für eine Fehlbesetzung, aber die Chance, das Gegenteil zu beweisen, wird in diesem Durcheinander nicht größer. Und alles, was nicht gut ist für Dercon, wird Lederer gefallen. Der Kultursenator hat kein Problem damit, einen vom Land Berlin ordentlich bestellten Theaterleiter abzuwatschen, bevor der überhaupt sein Haupthaus eröffnen kann. In der ZDF-Sendung „Aspekte“ schwärmt Lederer vom neuen Berliner Ensemble unter Oliver Reese. Dercon hingegen müsse jetzt „liefern“.
Das ist die Sprache von Pizzabuden und Politikern. So autoritär und anmaßend ist in Berlin lange nicht mehr mit Kulturleuten geredet worden. So sprang die West-Berliner CDU einst mit der jungen Schaubühne und dem Grips Theater um – in SED-Manier. Klaus Lederer hilft mit, das Klima zu vergiften und rüde alte Sitten wieder einzuführen.
Lederer hat ein Amt und eine Verantwortung. Dem wird er nicht gerecht. Er lässt an der Volksbühne einen rechtsfreien Raum zu und nimmt in Kauf, dass Haus und Einrichtung beschädigt werden. Und auch die Institution, die Tradition: Man darf den „geilen“ Besetzerkram nicht mit Frank Castorfs chaotischer Ernsthaftigkeit verwechseln. Es war übrigens Michael Müller, der Dercon geholt hat. Aber falls Müller noch Regierender Bürgermeister ist, hat er jetzt natürlich Wichtigeres zu tun, als sich mit seinem Koalitionspartner anzulegen.